«Oft bleibt in mir ein Gefühl der Ohnmacht zurück»

Flucht

Der Fotoreporter Klaus Petrus ist oft an Grenzen anzutreffen, wo Menschen auf der Flucht festhängen. Warum sie dies auf sich nehmen und nicht umkehren, sagt er im Interview.

Seit Jahren sind Sie als Reporter unterwegs an Grenzen, dort, wo sich Menschen auf der Flucht befinden, wo sie verborgen leben, sich durchschlagen und irgendwie versuchen, weiterzukommen. Weshalb tun Sie das? 

Klaus Petrus: Als ich als Philosophieprofessor von der Universität Bern weggegangen bin, habe ich ein Thema mitgenommen, das mich bereits seit Längerem beschäftigte – das Thema «Mauern» im Sinne von Rändern, Grenzen, aber auch von Vorurteilen und Feindbildern. Zwischen Abgrenzen und Ausgrenzen verläuft bloss eine sehr feine Linie, und Stereotype – die ja etwas Ausgrenzendes haben – können sehr schnell in Feindbilder kippen.

Wo haben Sie mit Ihrer journalistischen Arbeit konkret angesetzt? 

Als Fotoreporter bin ich immer wieder in Konfliktgebiete gereist, denn wo Konflikte sind, da sind auch Mauern. Dann kam im Jahr 2015 die sogenannte Migrationskrise, und mit ihr verfestigten sich bei uns die stereotypen Vorstellungen, die inneren Bilder, die Vorurteile über «den Flüchtling». Für mich war bald einmal klar, dass bei meiner Arbeit künftig das Thema «Flucht» ein Schwerpunkt sein sollte.

Was sehen und erleben Sie auf Ihren Reportagereisen? 

Ich interessiere mich vor allem für Flüchtende, die nicht in den offiziellen Camps sind, sondern im «jungle», also irgendwo auf verlassenen Arealen oder in Wäldern entlang einer Staatsgrenze auf der Balkanroute. Ich gehe immer wieder dorthin, und ich treffe immer wieder Leute an, die da festhängen. Manche dieser Menschen lerne ich näher kennen. Ich erfahre, was sie beschäftigt, etwa die Suche nach Schlupflöchern in der Grenzsicherung, der Umgang mit der Grenzpolizei oder die Gefahr, mit Gewalt konfrontiert zu werden.

Klaus Petrus, 57

Klaus Petrus, 57

Er studierte in Bern Philosophie, nach Promotion und Habilitierung folgte eine Lehrtätigkeit in der Schweiz, zuletzt als Professor in Bern. Heute arbeitet er als Journalist, Fotoreporter und Buchautor. Sein neuestes Werk ist ein Bildband, der Geschichten der Flucht auf der Balkanroute erzählt. 

Klaus Petrus: Spuren der Flucht. Aswad, 2025, 192 Seiten

Wie nahe gehen Sie an das Geschehen heran? 

So nahe als überhaupt möglich. Ich habe auch schon Gruppen begleitet, die «illegal» über die Grenze gegangen sind. Ich habe gesehen, wie sie von der Grenzpolizei behandelt wurden, und habe auch mitbekommen, wie die Schlepper arbeiten und was ihre Rolle ist.

Damit setzen Sie sich persönlicher Gefahr aus, oder nicht? 

Ich weise mich immer als Journalist aus, das wird von der Grenzpolizei schon in gewisser Weise respektiert. Aber dem Vorwurf, dass man seinen Status als Journalist missbraucht, um Flüchtlingen über die Grenze zu helfen, setzt man sich sehr wohl aus. Einmal nahm mir die kroatische Grenzpolizei den Fotoapparat ab, schlug dann die Jungs, mit denen ich unterwegs war, zusammen und gab mir danach meine Kamera wieder zurück.

Was lösen solche Gewalterlebnisse in Ihnen aus? 

Ich habe in eskalierenden Situationen auch schon versucht einzuwirken, aber oft weiss man, dass es nichts bringt oder alles nur noch verschlimmert. Was bleibt, ist ein Gefühl der Ohnmacht. Besonders nahe geht es mir jeweils, wenn alte Menschen und Kinder involviert sind. Dazu kommt ein schlechtes Gewissen, das mich oft begleitet. Die NGOs tun was, ich tue nichts. Ich gehe hin und entwende diesen Menschen Geschichten, die ich hier bei uns als Reportagen erzählen kann. Das bringt ihnen persönlich ja nichts.

Vielleicht doch. Wer kann das so genau wissen? 

Ja, ich kann womöglich hier in der Schweiz etwas bewirken, kann mithelfen, die Fronten und Vorurteile aufzuweichen. Aber den Betroffenen auf den Fluchtrouten oder in Kriegsgebieten hilft es nicht. Wenn ich bei mir zu Hause in Biel mein Fotomaterial sichte und weiss, einer der abgebildeten Menschen ist bereits nicht mehr am Leben … Und dennoch: Irgendwie habe ich schon auch die Hoffnung, dass das, was ich mache, wichtig sein könnte.

Erwägen die Menschen, die auch nach Monaten und sogar Jahren auf der Flucht irgendwo unterwegs festhängen, eigentlich nicht, wieder zu ihren Leuten in ihrer Heimat zurückzukehren? 

Nein. Viele sagen, nur über meine Leiche. Dass sie nicht nach Hause zurückkehren, hat sehr viel mit Scham zu tun. Sie sehen sich als Versager, welche die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Eine Flucht nach Westen kostet. Oft verschulden sich die Familien, wenn sie das Geld für die Reise eines ihrer Mitglieder aufbringen. Sie tun dies in der Hoffnung, dass der Geflüchtete später auch wieder Geld nach Hause zurückschicken wird. Erreicht dieser das Reiseziel nicht, dann hat er versagt. 

Viele Flüchtende haben eigentlich erwartet, in Europa willkommen zu sein.
Klaus Petrus, Fotoreporter

Wie gehen die Migranten mit dieser Situation um? 

Nicht wenige werden perspektivlos, zumal sie ja eigentlich erwartet haben, dass sie bei uns in Europa willkommen sind. Der Ausspruch «Wir schaffen das» der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese Hoffnung zusätzlich befeuert, das stimmt wohl schon. Wenn die Flüchtenden dann erfahren, dass es in der Realität anders ist, und sich mit Abweisung, offenem Rassismus und Gewalt konfrontiert sehen, sind sie verwirrt: Was gilt denn nun eigentlich? Will man uns oder will man uns nicht?

Ja, was gilt eigentlich? 

Nun, das ist unterschiedlich. Manche, denen es gelingt, ein Gastland zu erreichen, kommen in Integrationsmassnahmen und erhalten Aufenthaltspapiere. Andere hingegen landen in den berüchtigten italienischen Plantagen als Erntehelfer und bleiben ohne wirkliche Perspektive. Eher Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten die gut ausgebildeten Jungen. Darunter gibt es zum Beispiel IT-Cracks, Ärzte und Ingenieure. Oftmals stellt man sich die Flüchtlinge stereotyp so vor: aus prekären Verhältnissen stammend,  schlecht gebildet und zu allerlei Missetaten bereit. Auch das ist ein Klischee.

Wenn aber junge, ungebildete Männer aus dem Maghreb in Schweizer Wohnquartieren als Diebe unterwegs sind, fühlt man sich in dieser Vorstellung bestätigt. 

Ja – und die Zementierung eines allgemeinen Feindbildes passiert dann sehr schnell, vor allem in bürgerlichen Kreisen. Während auf der linken Seite Geflüchtete häufig als Opfer gelten. Aber auch das stimmt so nicht. Die Geflüchteten wollen nämlich keine Opfer sein, das höre ich von ihnen immer wieder. Sondern Menschen auf Augenhöhe.

Geflüchtete kommen sehr oft aus Kriegsgebieten. Wird man als Beobachter automatisch zum Pazifisten, wenn man sieht, was Krieg mit Menschen so alles anrichtet? 

Es ist enorm, welchen Ungeheuerlichkeiten Zivilpersonen – ich habe es immer mit solchen zu tun – in Kriegsgebieten ausgesetzt sind. Geostrategisch mögen Kriegshandlungen manchmal vielleicht nachvollziehbar sein, aber mit Blick auf das Elend, das sie anrichten, sind sie unverständlich und nicht zu legitimieren. Aus meinem eingeschränkten, persönlichen Blickwinkel sage ich deshalb: Ja, ich bin auf jeden Fall gegen Krieg. Zugleich glaube ich nicht, dass eine pazifistische Gesellschaft realistisch ist.

Krieg gehört zum Menschsein, sagen ja manche Philosophen und Anthropologen. 

Hmm – ich bin nicht so sicher, ob Krieg wirklich zum Menschsein gehört. Gewalt allerdings schon. Von ihr geht sogar etwas düster Faszinierendes aus, ich selber spüre das ja auch. Nicht, dass ich es billige, ich stelle es nur fest. Über eine Erklärung müsste man einmal gründlich nachdenken, auf die Schnelle habe ich keine Antwort.

Zum Schluss noch dies: Was lässt sich von Flüchtlingen lernen? 

Eine interessante Frage. Ich würde es so sagen: Der Flüchtling tritt nach und nach in den Hintergrund, wenn man sich auf ihn als Menschen einlässt und immer wieder mit ihm zu tun hat. Ich habe erlebt, dass die Gespräche rund um Flucht, Scham und Perspektivlosigkeit im Lauf der Zeit weniger wichtig werden. Man spricht dann über die Familie, gemeinsame Lieblingsbands, Fussball … Aus dem «Fremden» wird auf einmal ein Bekannter, der einfach aus einem anderen Ort stammt und je nachdem halt etwas andere Ansichten hat. Ja, vielleicht lässt sich das aus solchen Kontakten lernen: dass ein Fremder nicht per se eine Gefahr ist und kein Grund zum Misstrauen.