Wie gehen die Migranten mit dieser Situation um?
Nicht wenige werden perspektivlos, zumal sie ja eigentlich erwartet haben, dass sie bei uns in Europa willkommen sind. Der Ausspruch «Wir schaffen das» der damaligen deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel hat diese Hoffnung zusätzlich befeuert, das stimmt wohl schon. Wenn die Flüchtenden dann erfahren, dass es in der Realität anders ist, und sich mit Abweisung, offenem Rassismus und Gewalt konfrontiert sehen, sind sie verwirrt: Was gilt denn nun eigentlich? Will man uns oder will man uns nicht?
Ja, was gilt eigentlich?
Nun, das ist unterschiedlich. Manche, denen es gelingt, ein Gastland zu erreichen, kommen in Integrationsmassnahmen und erhalten Aufenthaltspapiere. Andere hingegen landen in den berüchtigten italienischen Plantagen als Erntehelfer und bleiben ohne wirkliche Perspektive. Eher Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten die gut ausgebildeten Jungen. Darunter gibt es zum Beispiel IT-Cracks, Ärzte und Ingenieure. Oftmals stellt man sich die Flüchtlinge stereotyp so vor: aus prekären Verhältnissen stammend, schlecht gebildet und zu allerlei Missetaten bereit. Auch das ist ein Klischee.
Wenn aber junge, ungebildete Männer aus dem Maghreb in Schweizer Wohnquartieren als Diebe unterwegs sind, fühlt man sich in dieser Vorstellung bestätigt.
Ja – und die Zementierung eines allgemeinen Feindbildes passiert dann sehr schnell, vor allem in bürgerlichen Kreisen. Während auf der linken Seite Geflüchtete häufig als Opfer gelten. Aber auch das stimmt so nicht. Die Geflüchteten wollen nämlich keine Opfer sein, das höre ich von ihnen immer wieder. Sondern Menschen auf Augenhöhe.
Geflüchtete kommen sehr oft aus Kriegsgebieten. Wird man als Beobachter automatisch zum Pazifisten, wenn man sieht, was Krieg mit Menschen so alles anrichtet?
Es ist enorm, welchen Ungeheuerlichkeiten Zivilpersonen – ich habe es immer mit solchen zu tun – in Kriegsgebieten ausgesetzt sind. Geostrategisch mögen Kriegshandlungen manchmal vielleicht nachvollziehbar sein, aber mit Blick auf das Elend, das sie anrichten, sind sie unverständlich und nicht zu legitimieren. Aus meinem eingeschränkten, persönlichen Blickwinkel sage ich deshalb: Ja, ich bin auf jeden Fall gegen Krieg. Zugleich glaube ich nicht, dass eine pazifistische Gesellschaft realistisch ist.
Krieg gehört zum Menschsein, sagen ja manche Philosophen und Anthropologen.
Hmm – ich bin nicht so sicher, ob Krieg wirklich zum Menschsein gehört. Gewalt allerdings schon. Von ihr geht sogar etwas düster Faszinierendes aus, ich selber spüre das ja auch. Nicht, dass ich es billige, ich stelle es nur fest. Über eine Erklärung müsste man einmal gründlich nachdenken, auf die Schnelle habe ich keine Antwort.
Zum Schluss noch dies: Was lässt sich von Flüchtlingen lernen?
Eine interessante Frage. Ich würde es so sagen: Der Flüchtling tritt nach und nach in den Hintergrund, wenn man sich auf ihn als Menschen einlässt und immer wieder mit ihm zu tun hat. Ich habe erlebt, dass die Gespräche rund um Flucht, Scham und Perspektivlosigkeit im Lauf der Zeit weniger wichtig werden. Man spricht dann über die Familie, gemeinsame Lieblingsbands, Fussball … Aus dem «Fremden» wird auf einmal ein Bekannter, der einfach aus einem anderen Ort stammt und je nachdem halt etwas andere Ansichten hat. Ja, vielleicht lässt sich das aus solchen Kontakten lernen: dass ein Fremder nicht per se eine Gefahr ist und kein Grund zum Misstrauen.