Negina Hakimi neigt ihren Kopf nach vorn, in der Hand hält sie eine Wortkarte. «Mund» steht auf der Vorderseite, auf der Rückseite ist der Begriff abgebildet. Mit der Nase berührt sie die Karte fast. Einige Sekunden verstreichen. «Mund», sagt sie zögerlich. Irene Kupper, die neben ihr sitzt, fragt: «Was ist das?» Hakimi legt ihren Finger auf den Mund, und Kupper nickt. Die beiden Frauen lachen.
Wenn ein Licht aufgeht
Das Projekt «Zäme da» bringt Einheimische mit Geflüchteten zusammen. Seit einem Jahr unterrichtet eine pensionierte Lehrerin in Wetzikon eine Analphabetin aus Afghanistan.
Negina Hakimi (links) lernt mit Irene Kupper lesen. (Foto: Reto Schlatter)

Das Ankommen erleichtern
An dem Mittwochmorgen lernt die 27-jährige Afghanin bei der pensionierten Primarlehrerin und ehemaligen Kirchenpflegerin in Wetzikon Deutsch. Begonnen haben sie vor über einem Jahr. Einmal in der Woche treffen sie sich für eineinhalb Stunden. Negina Hakimi konnte bis vor Kurzem weder lesen noch schreiben, auch in ihrer Muttersprache Persisch nicht. Wegen eines Unfalls in ihrer Kindheit sieht sie ausserdem sehr schlecht.
Als Mi-Kyung Lee, Sozialdiakonin der Reformierten Kirche Wetzikon, Kupper für ein Tandem anfragte, sagte die 65-jährige ehemalige Lehrerin sofort zu. Das Projekt «Zäme da» ist Teil der spezifischen Integrationsförderung des Kantons Zürich. Die reformierte Landeskirche sowie die Caritas Zürich bilden die Trägerschaft. Sie wollen Leute aus der Bevölkerung mit Geflüchteten zusammenbringen, um das Ankommen zu erleichtern. Das Integrationsprojekt gibt es in den Bezirken Uster, Pfäffikon, Hinwil und Meilen.
Monate lang auf der Flucht
Die Freiwilligen unterstützen bei alltäglichen Herausforderungen, etwa beim Billettkauf für Zug, Tram und Bus oder beim Entsorgen. Das Projekt läuft noch bis Ende 2023. Kupper sollte Hakimi vor allem das Lesen und Schreiben beibringen.
Die junge Afghanin flüchtete vor vier Jahren in die Schweiz, gemeinsam mit ihrem Mann und drei Söhnen. Während vier Monaten war die Familie unterwegs. Ihre Flucht führte sie durch Pakistan und Iran, die Türkei bis nach Griechenland.
In Gruppe chancenlos
Hakimi kennt nun 24 Buchstaben. Sie aneinanderzureihen, bereitet ihr manchmal Mühe, die Wörter entstehen noch nicht so leicht. Es ist nicht der erste Deutschunterricht, den sie besucht. Doch bevor sie mit Kupper arbeitete, habe sie kaum etwas gelernt. Wegen der Sehbehinderung konnte sie dem Gruppenunterricht nicht wirklich folgen. Jetzt kommt sie im Alltag zurecht, kann zum Beispiel Anzeigetafeln lesen.
«Ich bin sehr dankbar», sagt Negina Hakimi. Sie lächelt. Irene Kupper freut sich über die Fortschritte, obwohl es auch Rückschritte gibt. In den Sommerferien etwa fiel der Unterricht aus, und Hakimi konnte mit niemandem üben. Aber sie habe Geduld, sagt Kupper. «Und das Strahlen, wenn ihr ein Licht aufgeht, ist wunderbar.»