«Die Angst tropft von den Wänden»

Philosophie

Der Journalist Jürgen Wiebicke erklärt, wie man in Krisenzeiten der Angst begegnen und mit Engagement zuversichtlich in die Zukunft schauen kann. 

Am Zürcher Philosophie Festival sprechen Sie über Angst und Zuversicht. Was beschäftigt Sie besonders an der Angst?

Jürgen Wiebicke: Zunächst beschäftigt mich die Frage, wie wir aus der Angst herausfinden und das gewinnen, was wirklich nötig ist, nämlich Zuversicht. Ich habe an vielen Veranstaltungen mit Menschen über diesen Themenkreis gesprochen. Und ich hatte ziemlich oft das Gefühl: Im Moment tropft die Angst regelrecht von den Wänden. 

In den letzten Jahren folgte Krise auf Krise. Ist es nicht verständlich, dass wir mit Ängsten kämpfen?

Natürlich. Die Erwartung speist sich aus dem, was zuletzt passiert ist. Wenn wir heute nach vorn schauen, dann werden die meisten Leute nichts anderes erwarten als multiple Krisen. Menschen sind sich schnell darin einig, dass Unheil bevorsteht. Diese Unheilserwartung ist aber gefährlich, weil sie in eine Rolle der Ohnmacht führt und so ungewollt das schaffen kann, was man eigentlich befürchtet. Dass die Dinge auch anders ausgehen können, nämlich unverhofft besser als erwartet, das droht aus dem Horizont des Denkens zu verschwinden.

Was setzen Sie dem entgegen?

Positive Beispiele des Handelns. Es geht nicht um grosse Visionen, sondern um die Praxis. Wie kann ich in meiner Umgebung mithelfen, Hässliches in Schönes zu verwandeln? Das entsteht nicht am Sitzungstisch, sondern in aller Regel in zwangloser Geselligkeit. 

Sie berichten von gelungenen Projekten der Zivilgesellschaft. Was macht diese aus?

Ich bin seit 20 Jahren auf der Suche nach lokalen Netzwerken, die gute Orte schaffen. Geschichten vom Gelingen möchte ich weitertragen. Ich erzähle gern, wie jede gute Idee am Anfang von ganz wenigen gedacht wurde, und warne davor, dass Angst als kollektive Mentalität ein politisches Problem bedeutet. 

Inwiefern?

Die Demokratie-Idee ist darauf angewiesen, dass Menschen das Zutrauen haben, durch ihr eigenes Handeln etwas verändern zu können. Wenn wir uns als Opfer einrichten, denen nichts anderes bleibt, als einfach zuzuschauen, wie Dinge geschehen, so haben wir innerlich mit dem Betriebssystem der Demokratie bereits gebrochen. 

Mit der Demokratie befassen Sie sich auch in Ihrem neusten Buch «Erste Hilfe für Demokratieretter». Worum geht es darin?

Es gibt viele Menschen, die sich fragen: Was kann mein Beitrag zum Gemeinwesen sein? Wie kann ich herauskommen aus der Fixierung auf mein Privatleben? Sie möchte ich ermutigen, aktiv zu werden. Das Wichtigste daran ist nicht einmal das Projekt an sich, sondern die Tatsache, dass Menschen sich miteinander verbinden und sich kümmern. So entstehen gute Orte. 

Und wie sollen wir uns von durchaus berechtigten Ängsten befreien?

Überhaupt nicht. Angst gehört zum Menschsein dazu, weil wir endliche, verletzliche Wesen sind. Die Angst wird niemals aus unserem Leben verschwinden, und wir werden niemals in Sicherheit sein. 

Aber wie kann man da trotz allem zuversichtlich bleiben?

Kürzlich hat mir eine Frau, die in der Palliativpflege arbeitet, von einer Patientin erzählt, die sagte: «Ich habe lange versucht, die Angst aus meinem Haus auszusperren, doch sie wird immer da sein. Aber ich kann dafür sorgen, dass sie nicht im Wohnzimmer sitzt, sondern in der Abstellkammer.» 

Ein schönes, treffendes Bild.

Ja. Es geht immer darum, der Angst ihren Platz zuzuweisen und sich von ihr nicht lähmen zu lassen. Zuversicht kann man trainieren. Verantwortung zu übernehmen, Engagement zu zeigen, helfen dabei. 

Ist Pessimismus nicht auch nützlich? Optimismus kann die Welt durch eine rosarote Brille betrachten und alles geschehen lassen.

Gut, dass Sie das erwähnen. Ich bin überhaupt nicht optimistisch, dazu gibt es heute keinen Grund. Aber ich hoffe. Die Hoffnung, dass etwas besser ausgeht als erwartet, unterscheidet sich vom Optimismus darin, dass sie sich ihrer selbst nicht sicher ist. Der Optimist rechnet damit, dass die Dinge gut ausgehen. Der hoffende Mensch jedoch rechnet nicht. 

Jürgen Wiebicke, 62

Jürgen Wiebicke, 62

Der deutsche Journalist moderiert wöchentlich «Das philosophische Radio» auf WDR5 und ist Autor zahlreicher Bücher. Er studierte Germanistik und Philosophie in Köln und gehört zum Leitungsteam des internationalen Philosophiefestivals Phil.Cologne.


Jürgen Wiebicke: Emotionale Gleichgewichtsstörung. Kleine Philosophie für verrückte Zeiten. Kiepenheuer & Witsch, 2023