Die Tiefenschichten des vierten Evangeliums ergründen

Theologie

Wie können Bibeltexte helfen, das Geheimnis des Daseins zu verstehen? Ein zweibändiges Werk von Bernhard Neuenschwander über das Johannesevangelium gibt Antworten.

Der reformierte Pfarrer Bernhard Neuenschwander befasst sich bereits ein Berufsleben lang mit Mystik und ihrer Praxis. Er selber schöpft Kraft aus stiller Meditation, die er seit Jahren praktiziert, und aus der geistigen Reflexion dessen, was er dabei erfährt und lernt.

Seine Erkenntnisse finden nicht nur Niederschlag in seiner Arbeit als Pfarrer, Seelsorger und Therapeut, sondern auch in Büchern. So hat er im Herbst 2023 das dreibändige Werk «Weisheit der Mystik» veröffentlicht («reformiert.» berichtete), das einen vertiefenden Blick auf die Psalmen wirft.

Dieses Werk ist Teil einer geplanten Trilogie. Vorausgegangen ist bereits der zweibändige Teil «Mystik der Freiheit», eine ausführliche Auseinandersetzung mit den mystischen Tiefenschichten des Johannesevangeliums. Diese beiden Bände sind jetzt in einer Neuauflage erschienen. Es handelt sich dabei um Predigten, die Neuenschwander zwischen 2008 und 2013 als bernischer Gemeindepfarrer gehalten hat.

Ein Stück Gotteserfahrung

Die den Predigten zugrunde gelegten Texte aus dem Johannesevangelium werden so erörtert, dass in ihnen ein Stück unmittelbare Gotteserfahrung durchschimmert – ganz im Sinn der Mystik, bei der es darum geht, Augenblicke der Transzendenz, Momente der Erleuchtung zu erleben. Will heissen: schwer, eigentlich kaum zu beschreibende, aber nachhaltige Gotteserfahrungen, wie sie sich manchmal bei spirituellen Übungen einstellen, bei Kontemplation etwa, Meditation, Exerzitien oder Tanz. Als Türöffner kann auch das intensive Reflektieren geistlicher Texte dienen.

Bernhard Neuenschwander, 62

Bernhard Neuenschwander, 62

Evangelisch-reformierte Theologie studierte er in Bern, Zürich und München. In Kyoto und Lima war er wissenschaftlich tätig, promoviert hat er mit einer Arbeit, in der er den Erlösungsweg im Zen und im Johannesevangelium einem Vergleich unterzog. Seit 1997 ist Bernhard Neuenschwander Pfarrer in Wabern, hier praktiziert er auch als Integrativer Psychotherapeut FPI.

www.ritualart.ch

Wie und wo versteckt sich Mystisches im vierten Evangelium des Neues Testaments? Als Beispiel angeführt sei Kapitel 24 in Neuenschwanders erstem Band. Diese Predigt ist übertitelt mit «Das Geheimnis». Hier geht es um die Textstelle Johannes 8,21–30. Jesus sagt seinen Zuhörern unter anderem: «Ihr seid von unten, ich bin von oben. Ihr seid von dieser Welt, ich bin nicht von dieser Welt.» Und weiter: «Wenn ihr den Menschensohn erhöht habt, dann werdet ihr erkennen, dass ich es bin und dass ich von mir aus nichts tue, sondern so rede, wie mich der Vater gelehrt hat. Und der mich gesandt hat, ist mit mir.»

Neuenschwander arbeitet aus dieser Bibelstelle die folgende Erkenntnis heraus: Unser Leben und Denken ist bestimmt von Bildern, heute mehr denn je, und in dieser Bilderflut glauben wir die Welt in ihrer ganzen Wirklichkeit zu erkennen. Tatsächlich aber ist unser Blick oftmals verstellt, wir sehen nur die Oberfläche der Bilder. Die Wahrheit, die hinter den Bildern beziehungsweise in ihrem Kern steckt, bleibt uns verborgen.

Die Predigten ermutigen Menschen, über das Geheimnis ihres Daseins nachzudenken, um nach einem Moment des Innehaltens erneut und vielleicht auch erneuert in ihren Alltag zurückzukehren.
Bernhard Neuenschwander

Auf die betreffende Bibelstelle bezogen bedeutet dies: Die, die Jesus «erhöht» – sprich: am Kreuz erhöht, also gekreuzigt haben, werden ihn genau in diesem Moment erkennen. «Das ist bemerkenswert», schreibt Neuenschwander. «Offensichtlich geht er [Jesus] davon aus, dass sie dann, wenn sie ihm alles genommen haben, erkennen, wer er ist: nichts als der Gesandte Gottes; dass sie dann erkennen, dass er nichts für sich selber ist, dass er in diesem Nichts-Sein aber genau die Gegenwart Gottes ist, die er ist.» Anders ausgedrückt: «Nicht dadurch, dass er ‹etwas› ist, zeigt er, wer er ist, sondern dadurch, dass er ‹nichts› ist.»

Fährtensucher, Spurenleser

Das Alles, das Göttliche, das Geheimnis des Seins, das sich im Nichts offenbart – das ist eine spirituelle Erfahrung, wovon etwa auch im Zen-Buddhismus und anderen mystischen Strömungen die Rede ist. Und es ist mystisches Sprechen, wie es im Johannesevangelium an so vielen Stellen angelegt ist, wenn oftmals auch gleichnishaft und verschlüsselt; als Geheimnis, dem es nachdenkend auf die Spur zu kommen gilt. Bernhard Neuenschwander bietet sich in seinem Werk «Mystik der Freiheit» als Fährtensucher, Spurenleser und Pfadfinder an. Wer ihm folgt, stösst beim Lesen auf einen reichen Fundus an Erkenntnisreichem, Anregendem und Bedenkenswertem.

Dazu der Autor in seinem Vorwort: Die Predigten «ermutigen moderne, religiös interessierte, aber normalerweise säkular denkende Menschen, die mit beiden Beinen in ihrem Alltag stehen, über das Geheimnis ihres Daseins nachzudenken, um nach einem Moment des Innehaltens erneut und vielleicht auch erneuert in ihren Alltag zurückzukehren.»

Bernhard Neuenschwander: Mystik der Freiheit, 2 Bände, Fromm Verlag, 2. Auflage 2025