Gesellschaft 17. Dezember 2024, von Nicola Mohler

«Ich wusste nicht, wie divers Kirche ist»

Kirche

Durch Gastroprojekte kommen Menschen in Kontakt mit Kirche, die ihr eher fern sind – wie Zoe Fischbacher. Durch ihre Arbeit im Alten Pfarrhaus sieht sie heute einiges anders.

Die Arbeitgeberin im Alten Pfarrhaus ist die Kirchgemeinde Muri-Gümligen. Was ging dir durch den Kopf, als du den Stellenbeschrieb der Barista gelesen hast?

Zoe Fischbacher: Mich hatten die Werte angesprochen, die das Alte Pfarrhaus vermitteln will. Was die Kirche angeht, wusste ich nicht, was mich erwarten würde – ich hatte bis anhin keinen näheren Kontakt mit der Kirche. Ich fragte mich eher: Wollen sie jemanden wie mich, die nicht Teil der Kirche ist?

Wie wurdest du kirchlich sozialisiert?

Wenig. Ich bin weder getauft noch konfirmiert. Meine Eltern bezeichnen sich beide als konfessionslos, gehören keiner Kirche an. Sie ermutigten mich aber, in der Schule den Religionsunterricht zu besuchen. Das war ein Freifach für mich. Ich besuchte den Unterricht gerne. Ging sogar hin, auch wenn ich hätte frei haben können.

War beim Vorstellungsgespräch deine Konfessionslosigkeit ein Problem?

Vor mir sassen die zukünftige Betriebsleiterin, jemand aus dem Kirchgemeinderat und eine Pfarrperson. Ich habe das Thema direkt angesprochen. Das war mir wichtig. Sie hatten kein Problem mit meiner Konfessionslosigkeit. Ich habe sie als sehr offen erlebt. Ihnen war wichtig, dass ich für die Werte einstehen konnte.

Zoe Fischbacher, 25

Die St. Gallerin studierte im Bachelor Psychologie. Derzeit absolviert sie an der Universität Bern einen Master in Sustainability Transformations. Im Alten Pfarrhaus in Muri arbeitete sie zweieinhalb Jahre als Barista und stellvertretende Betriebsleiterin. Heute springt sie bei Ausfällen noch ein.

Was für ein Bild hattest du bis dahin von Kirche?

Ich dachte, Kirche bestehe aus Gottesdienst. Punkt. Ich wusste nicht, wie divers, wie vielfältig Kirche ist. Ich wusste, in der Kirche gibt es eine Pfarrperson. Aber was Sozialdiakoninnen, Katecheten oder Sigristinnen alles machen, war mir nicht bewusst. Die soziale Arbeit der Kirche habe ich erst hier im Alten Pfarrhaus kennen gelernt.

Was hat dir an der Arbeit im Alten Pfarrhaus besonders gefallen?

Dass wir Zeit für unsere Gäste haben durften. Ich arbeitete auch schon in einem normalen Gastrobetrieb, wo wir von Tisch zu Tisch rannten. In Muri nimmt der soziale Wert der Arbeit mehr Raum ein. Brauchte eine Besucherin ein Ohr, konnte ich entweder verweilen und zuhören, im oberen Stock den Pfarrer rufen oder die Telefonnummer von einem Seelsorgeangebot aushändigen. Besonders gefallen hat mir zudem die Zusammenarbeit mit Silvia Tapis, die von Professionalität, geteilten Werten und immer wieder einer Prise Spass geprägt war. Wir teilten die Leidenschaft für die Menschen, in Muri einen Ort der Gemeinschaft und des Austausches zu schaffen. 

Gibt es eine Begegnung, die dir besonders in Erinnerung geblieben ist?

Eine Frau teilte mit mir ihre Sorgen über die Welt ich. Ich habe nichts anderes getan als zugehört. Von der Pfarrerin habe ich dann erfahren, dass die Dame ihr mitgeteilt hat, wie wichtig mein Zuhören für sie gewesen sei. Das hat mir bewusst gemacht, wie wichtig die Arbeit hier ist.

Gab es Momente, in denen du dachtest: Ja, das ist jetzt typisch Kirche? 

Die Entscheidungsprozesse erlebte ich als oft langsam. In einem normalen Kaffee wird gemäss dem gesetzlichen Rahmen rasch entschieden. Hier aber merkte ich, dass zwei Welten aufeinanderprallen: das Kaffee als innovativer Raum und die Kirche als stabile, langfristig denkende Struktur. Beides wichtige und wertvolle Eigenschaften. Sie unterliegen gemeinsam unter einem Dach einem Spannungsfeld von Innovation, Flexibilität und Stabilität.

Ich weiss heute, wie wichtig die Institution Kirche für die Gesellschaft ist: Sie füllt die Lücke, die das System nicht füllen kann.

Im Pfarrhaus gibt es neben Kaffee auch Flohmärkte, Tavolata, gemeinsame Weihnachten.

Die Leute wissen, dass sie sich hier einbringen können. Das schätzte ich sehr. Jemand hatte die Idee eines Flohmarktes. Wir stellen den Ort zu Verfügung und übernehmen die Koordination. Das Alte Pfarrhaus lebt von der Gemeinschaft, die sich einbringt. Der Ort strahlt etwas ganz Besonderes aus. Ich kann es nicht in Worte fassen, aber man spürt es einfach.

Wie hat sich dein Bild von Kirche seither verändert?

Ich weiss heute, wie wichtig die Institution Kirche für die Gesellschaft ist: Sie füllt die Lücke, die das System nicht füllen kann. Zudem habe ich realisiert, dass Kirche Angebote anbietet, die ich interessant finde: Früher ging ich in Meditationskurse. Danach besuchte ich regelmässig Kontemplation-Veranstaltungen der Kirche. An der Universität fand ich das forum3- Raum für Studierende, ein Angebot der Reformierten Kirchen. Auf all die Angebote wäre ich ohne den Job im Alten Pfarrhaus nie aufmerksam geworden. Ich dachte vorher nicht, dass die Kirche Angebote hätte, die für mich spannend sein könnten. Zudem war der Job hier wohl Auslöser für mein jetziges Studium.

Inwiefern?

In meiner Funktion als stellvertretende Betriebsleiterin betreute ich den Schwerpunkt Nachhaltigkeit. Dabei arbeitete ich mit beim Nachhaltigkeits-Bericht über die mittelfristigen und langfristigen Möglichkeiten im Umgang mit Energie, Wasser und Foodwaste. Da wurde mein Interesse für den Master in Sustainability Transformations geweckt.

Heute gelingt es mir besser, die Sprache der Kirche für mich zu übersetzen.

Die Kirchen kämpfen mit Mitgliederschwund. Findest du, solche Café-Kirchen wären eine Chance, mehr Menschen mit Kirche in Kontakt zu bringen?

Absolut. Die Reichweite ist enorm, denn es kommen immer wieder neue Personen ins Alte Pfarrhaus und erleben Kirche auf eine neue Art.

Hast du deine Freundinnen auch schon hierhergebracht?

Ja, und sie sind immer positiv überrascht. Sie unterstreichen die Gemütlichkeit, den guten Kaffee, die Ästhetik und finden es gut, dass kein Konsumzwang herrscht. Eine Freundin hat dann sogar an einer Veranstaltung mitgeholfen und eine andere die Instagram-Posts übernommen.

Wie reagiert dein Umfeld, dass du für die Kirche arbeitest?

Sie sind meist überrascht und stellen viele Fragen. Ich muss dann jeweils viel erklären, was wir alles machen. Das ist nicht selbsterklärend wie etwa, wenn ich für den Bund arbeiten würde. 

Musst du dich dann verteidigen?

Es kann schon auch zu hitzigen Diskussionen kommen, etwa mit sehr kirchenkritischen Bekannten. Die bringen dann oft diese Pauschalisierung von Kirche ein. Mein Bild von Kirche ist differenzierter. Dies führt dazu, dass mein Gegenüber etwas zum Denken angeregt wird. 

Was bedeutet für dich Kirche heute?

Eine Alternative zu unserer heutigen schnellen Welt. Ein Ort, wo sich nicht nur alles um Leistung und Geld dreht. Aber Kirche in der klassischen Form spricht mich irgendwie nicht so an. Vielleicht ist es das Vokabular, das ich nicht verstehe. Denn ich glaube, wir glauben Ähnliches. Aber wir benennen es unterschiedlich. Das habe ich den vielen Gesprächen mit verschiedenen Pfarrpersonen realisiert. Heute gelingt es mir besser, die Sprache der Kirche für mich zu übersetzen.