«Die Waldenser waren wie der Sauerteig für Riesi»
Nach Jahren kehrt der Fotograf Gustavo Alàbiso nach Sizilien zurück. Dort wuchs er in einer sozialen Einrichtung der Waldenser auf, in der viele Schweizer ehrenamtlich tätig waren.
Der Fotograf Gustavo Alàbiso hat seine Kameraden aus seiner ehemaligen 5. Klasse porträtiert. Foto: Riccardo Götz

Was hat Sie zu der Ausstellung «Immagina Riesi» motiviert?
Gustavo Alàbiso: Ich lebe jetzt seit 35 Jahren in Deutschland. Wie jeder Migrant hatte ich das Bedürfnis, zu meinen Wurzeln zurückzukehren. Ich hoffte, auf meine Fragen Antworten zu bekommen. Denn im Alter von vier Jahren ging ich gemeinsam mit meinen Eltern nach Riesi in Sizilien. Die beiden arbeiteten als Diakone zusammen mit dem Waldenserpfarrer Tullio Vinay daran, den Servizio Cristiano Istituto Valdese, ein diakonisches Zentrum, aufzubauen. Dort besuchte ich damals die Schule. Es lag ausserhalb des Städtchens Riesi, es war eine andere Welt. Die Menschen tickten dort anders.
Inwiefern?
Es hatte dort viele Ausländer, die sich freiwillig engagierten, Schweizer, Franzosen, Deutsche, Engländer. Die Gegend galt als strukturschwach. Die Riesini lebten von der Landwirtschaft, die organisierte Kriminalität war hoch. Die Waldenser verfolgten die Vision, diesen Ort zu verändern. Sie wollten sich sozial engagieren, es ging keinesfalls um Mission. Vielmehr versuchten sie mittels Bildung den Kindern eine Perspektive ausserhalb von Armut, Gewalt und der Mafia zu bieten.
Und wie haben die Waldenser das angestellt?
Indem sie den Kindern jeweils ein Programm boten und sie beschäftigten. Die Grundschule war ganztägig. Es gab die klassischen Fächer wie Italienisch, Mathematik, Geografie, aber auch Englisch und Musik. Zu den Aufgaben der Kinder gehörte etwa, den Tisch zu decken, die Pflanzen zu wässern, Hamster zu füttern. Es wurde eine Schulzeitung produziert. Die Lehrpersonen besuchten regelmässig Fortbildungen. Das Zentrum liegt ausserhalb von Riesi in einem jahrhundertealten Olivenhain. Wir Kinder genossen dort viel frische Luft und Platz.
Wie begegneten die Riesini den Waldensern?
Die Einwohner Riesis verhielten sich ambivalent. Einige lehnten die Waldenser ab, aber viele anerkannten das soziale Engagement. Es gab auch keinen religiösen Schulunterricht – bis heute ein Merkmal der Waldenser. Für Neueinschreibungen bei den Schulen und Kindergärten bildeten sich schon nachts die Schlangen. Die Kinder wurden für wenig Geld gut und lange versorgt. Nie fehlte eine Lehrerin. Es hat jeweils alles funktioniert.
Wie war das für Sie persönlich?
Mit elf Jahren musste ich im Städtchen Riesi an die Mittelschule wechseln. Ich kam mit den neuen Strukturen nicht zurecht und fühlte mich fehl am Platz. Ich brachte die Welt vom Servizio Cristiano und jene der Schule in Riesi nicht zusammen. Diesen Konflikt trug ich lange mit mir herum. Irgendwann suchte ich meine ehemaligen Schulkameradinnen und -kameraden auf und fragte sie, wie es ihnen damals erging. Daraus ist dann die Ausstellung «Immagina Riesi» entstanden.
Und? Wie ist es den Schulkameraden ergangen?
Alle hatten gute Erinnerungen an die Zeit. Wir wurden ernst genommen, und unsere Meinungsbildung wurde gefördert. Das war damals keine Selbstverständlichkeit. Innerhalb der Elternschaft entstand eine Winzergenossenschaft, die bis heute besteht und die zu den grossen Produzenten des Rotweins Nero d’Avola gehört. Das wäre ohne den Impuls des Servizio Cristiano nie passiert. Die Waldenser waren wie Sauerteig für Riesi. Und das Zentrum gibt es auch heute noch. Es umfasst zwei staatlich anerkannte Schulen, eine Grundschule sowie einen Kindergarten, ein landwirtschaftliches Zentrum, eine Familienberatungsstelle sowie ein Gästehaus.
Gustavo Alàbiso, 63
Alàbiso ist 1962 in Pomaretto/Italien geboren. 23 Jahre lebte er mit seinen Eltern, die Diakone der Waldenser waren, in Riesi/Sizilien. Im Servizio Cristiano ging er zur Schule. Heute lebt der Fotograf in Deutschland. Seine Ausstellung «Immagina Riesi» war bereits in verschiedenen Orten zu Gast,
so auch kürzlich in Chur.