Pfarrer tauscht Grosststadt gegen Bündner Hochtal

Pfarramt

Pfarrer Jürg Scheibler hat im Avers seine Berufung gefunden – näher bei den Menschen, weiter weg von bürokratischen Hürden der Stadt, aber mitten im Dorf.

«Wer hat schon so eine Sicht aus seinem Büro?», fragt Jürg Scheibler. Die grossen Fenster geben den Blick auf eine nahezu unberührte, wildromantische Landschaft frei – das Avers. Das bündnerische Hochtal, knapp eine Stunde von Chur entfernt, beheimatet die höchste ganzjährig bewohnte Siedlung Europas: Juf liegt 2126 Meter über Meer. 

Die Edelweisskirche

Der Pfarrer wohnt nur zehn Autominuten vom Dorf entfernt, in Cresta. Dort befinden sich Lebensmittelgeschäft, Tankstelle, Schule, Gemeindehaus und eine Kirche. Im Volksmund heisst sie «Edelweisskirche». Sie ist auf einem felsigen Vorsprung gebaut, hinter ihr erheben sich die mächtigen Alpen. 

Das war nicht geplant

Das Pfarrhaus, in dem Jürg Scheibler im vierten Jahr lebt, ist in wenigen Minuten zu Fuss von der Kirche erreichbar. Es ist im neutralen Stil der 60er-Jahre gehalten und bietet Aussicht mit Bergkulisse. Das Mittagessen hat Jürg Scheibler selbst gekocht. «Ich habe eigentlich nie effektiv geplant, hierherzukommen», sagt er. «Die Dinge sind einfach auf mich zugekommen.» 

Kann das gutgehen?

Der gebürtige Baselbieter war zuvor in der grössten Kirchgemeinde in Basel als Pfarrer tätig – vor allem in der Jugendarbeit. Eine Silvesterfeier im Avers und der Hinweis «Du weisst ja, dass sie hier einen Pfarrer suchen» gaben Scheibler den Anstoss, sich auf die Stelle zu bewerben. Von der Stadt in ein bündnerisches Hochtal. Kann das gutgehen? 

Unterwegs mit Menschen

«Ja – ich wurde hier mit offenen Armen empfangen», sagt er. «Unkompliziert» sei es hier, weniger bürokratisch als in der Stadt. Etwas, was Scheibler in seinen vergangenen Dienstjahren in Basel zunehmend zu schaffen machte. Jahresplanung, Personalplanung, Perspektiven entwickeln: Scheibler waren es zu viele Managementaufgaben und zu wenig Zeit für seine Theologie. Hier im Avers könne er nun wieder ganz Pfarrer sein. «Mit den Menschen unterwegs sein», das tue ein Pfarrer, das habe er gelernt, und genau dort sieht er auch die Zukunft in seinem Beruf.

Aufeinander angewiesen

Scheibler ist nun für 130 Reformierte im Einsatz und für vier historische Kirchen zuständig. Ob er hier auf dem Land anders predige als in der Stadt? «Ganz und gar nicht.» Die Menschen hier oben seien weise. Jürg Scheibler lernt von ihnen, im Rhythmus mit der Natur zu leben. Man sei aufeinander angewiesen, zum Beispiel, wenn es innerhalb eines Tages einen «Chlapf Schnee» gebe. Dann kann es sein, dass sich die Bewohnerinnen und Bewohner des Dorfs gegenseitig aushelfen. 

Weniger ein Exot

Sowieso fasziniert Scheibler, wie die Menschen die Balance zwischen Gemeinschaft und Privatsphäre halten. «Hier oben, wo sich alle kennen, sind die eigenen vier Wände ein wichtiger Rückzugsraum. Als Pfarrer bin ich trotzdem in den Häusern willkommen.» Das empfindet Scheibler als grosses Privileg und «als Zeichen des Vertrauens». Die politischen Lagerkämpfe in der Kirchgemeinde, wie sie hin und wieder in Stadtgemeinden vorkommen, gebe es hier nicht, vielmehr gehe es darum, Lösungen zu finden. «Als Pfarrer bin ich Teil der Dorfgemeinschaft, weniger ein Exot wie in der Stadt.» Scheibler unterrichtet neun Kinder der Primarschule, die «Grossen und die Kleinen». Dass er als Pfarrer in der Schule Religion unterrichten dürfe, empfinde er als ein Privileg. 

Die Winter sind schon lang

Die Menschen im Avers sind zumeist Landwirte, sie arbeiten beim Kraftwerk Hinterrhein, im Steinbau oder haben Lkw-Unternehmungen. Acht Hotels, zwei Skilifte und ein Paradies zum Wandern, Bouldern oder für Skitouren bietet die Region. Einzig die Winter seien ihm manchmal etwas zu lang, sagt Jürg Scheibler, dann nehme er den Weg nach Basel. Er kehrt aber immer gerne zurück: «Gemeindepfarrer im Avers zu sein, fühlt sich an wie ein heilsames Zurückkommen in meinen ursprünglich erlernten Beruf.»

Drei Lieder tun es auch

Mit dem Umzug ins Hochtal warf der Pfarrer Ballast ab. Auch äusserlich: Jürg Scheibler predigt nicht mehr im Talar, und seine Gottesdienste kommen nun mit einem Gemeindelied weniger aus als früher. Eine ältere Besucherin hatte ihm gesagt: «Drei Lieder tun es auch, Herr Pfarrer.»