Wie haben Sies mit der Religion, Herr Bichsel?
Das ist eine lange Geschichte. Als Bub war ich buchstabensüchtig und las alles, was mir in die Finger kam. So auch die Bibel. Sie war eines der fünf Bücher in unserem Haushalt. Stundenlang habe ich die Namen in den Genealogien im Buch der Richter gelesen. Auch den Römerbrief –obwohl ich ihn nicht verstand. Das war damals unwichtig. Dann, als Jugendlicher, wurde ich fromm.
Wieso?
Als angepasstes Kind von lieben Eltern war die Frömmigkeit die einzige Möglichkeit, um mich von meinen Eltern zu emanzipieren. Ich war beim Blauen Kreuz und dem Bibellesebund. Dort merkte ich, dass ich lieber in Minderheiten lebe. Das ist mir bis heute geblieben. Damals wollte ich entweder Missionar oder Modemacher werden.
Was geschah dann?
Mit zwanzig Jahren begann ich, meinen kindlichen Glauben zu verwissenschaftlichen. Mit Karl Barth oder Augustinus war mein Interesse für die Theologie geweckt. Ich legte meine Frömmigkeit ab.
Lesen Sie heute noch in der Bibel?
Ja, ab und zu. Zu Hause habe ich die Hochzeitsbibel meiner Eltern stehen. Kürzlich habe ich eine Bibel-App auf mein Handy geladen.
Besuchen Sie den Gottesdienst?
Der letzte Kirchenbesuch liegt lange zurück. Eigentlich möchte ichschon lange wieder einmal hin, denn ich bin jeweils sehr ergriffen. Die Kirche als Institution ist mir ja im Prinzip sympathisch. Aber ich wünschte, sie würde eine wahre Alternative bieten. Stattdessen meint sie, mit der Mehrheit gehen zu müssen und die Welt in die Kirche zu holen. Diese Jodelgottesdienste und Jazzvespern finde ich erbärmlich.
Glauben Sie an Gott?
Ja. Ich glaube an Gott, auch wenn ich weiss, dass es ihn nicht gibt. Aber ich habe das nötig, an ihn zu glauben.