Ein Text wie ein Glas Orangensaft

Literatur

Tim Krohn hat in seiner Kolumne mit der Figur Bigna das Leben im Münstertal mit Witz und Wärme eingefangen. Jetzt verabschiedet sich das Mädchen, das vielen ans Herz gewachsen ist.

Auf dem Herd in der urigen Küche köchelt schon das Mittagessen. Die Kinder sind aber noch in der Schule, als Tim Krohn am grossen Holztisch Platz nimmt. Er nippt an seinem Wasserglas. Zeit, um über ein anderes Kind zu sprechen: Bigna.  «Alle Figuren, mit denen man so lange lebt, wachsen einem ans Herz», sagt er. Und Bigna sei mit der Kolumne gross geworden. «Am Anfang war sie vier und jetzt am Schluss ist sie zwölf Jahre alt.»

Schreiben in der Küche

Am Küchentisch, an dem Krohn gerade sitzt und von seiner Arbeit erzählt, sind einige seiner Kolumnen über das Mädchen Bigna und das Münstertal entstanden. Das Tal liegt eingebettet zwischen dem Unterengadin und Südtirol. Im Hauptort Santa Maria reihen sich uralte Häuser entlang der schmalen Dorfstrasse. In einem ehemaligen Gehöft hier an der Via Val Müstair lebt der Schriftsteller Tim Krohn mit seiner Frau Micha und vier Kindern.

Tränen zum Abschied

Inzwischen hat das Paar das Haus renoviert. So auch den kleinen Balkon oberhalb der Küche. Dort sass Krohn oft und hörte die Kinder im Hof spielen, während er schrieb oder über die nächste Kolumne nachdachte. «Mir begegnete stets etwas, wovon ich wusste: Das ist der Stoff für den neuen Text.» 

«Kindermund» erscheint in dieser Ausgabe von «reformiert.» nun zum letzten Mal. «Meine Frau und ich haben geweint, als wir wussten, dass wir Bigna loslassen müssen, sie ist ein Familienmitglied», sagt der Autor und wirkt dennoch entspannt. Die letzten fünf Kolumnen wollte Krohn dann auch für einen gelungenen Abschluss nutzen. «Die Figur muss sich ja von den Leserinnen und Lesern verabschieden.»

Ungeschützter Blick

 Krohn faszinierte die Idee, ein Kind ins Zentrum seiner Kolumne zu stellen, weil Kinder einen ungeschützteren Blick auf die Dinge hätten und beim Schreiben eher einen Perspektivwechsel ermöglichen würden. Bigna selbst sei ihm einfach «reingeschneit», wie Krohn es formuliert. «Meine Figuren erwachen immer in meinem Kopf zum Leben, ohne dass ich sie vorher entwerfe.» Die Walnüsse, die in einem der letzten Texte über Bigna vorkommen, könnten von dem Baum stammen, der durch das Küchenfenster zu sehen ist. Bigna sei in der Val Müstair verwurzelt, sagt Krohn jetzt. «Das Tal ist die Bühne.»  Seine Kolumne habe der Region sogar eine grössere Bekanntheit beschert: «Ist das der Ort, wo Bigna herkommt?» So oder so ähnlich wurde Tim Krohn immer wieder von Besucherinnen und Besuchern angesprochen. Überhaupt habe er viele positive Rückmeldungen zu seinen Texten erhalten. Bis auf zwei grantige E-Mails, in denen es jeweils um einen Porschefahrer ging, erinnert sich der Schriftsteller. Aber das sei wohl ein Missverständnis gewesen.

Hartnäckig optimistisch

Politische oder kontroverse Themen versuchte Krohn immer so zu erzählen, dass sie auch das Herz berühren. «Meine Kolumne sollte keine Streitschrift sein, sondern einladen, den Blick eines Kindes, den von Bigna, einzunehmen.»

Für Krohn war es wichtig, dass sich die Leserinnen und Leser einen Moment ausruhen konnten von all den schlechten Nachrichten auf der Welt, um dann gestärkt weiterzugehen. «Wie nach einem Glas frisch gepresstem Orangensaft.» 

Vom Flur her sind Kinderstimmen zu hören. Die Küchentür geht auf und die vier Kinder kommen herein. Sie haben jetzt Hunger. Der grosse Holztisch füllt sich schnell mit den Familienmitgliedern.  Nur Bigna wird fehlen. «Aber die Hartnäckigkeit und ihren Optimismus, mit dem sie Dinge immer wieder neu angefasst hat, dürfen wir von ihr mitnehmen», ist sich Tim Krohn sicher.