Der Nebel
weicht heute
nicht von der Hügelkuppe,
legt sich in die Heidestauden
im rostigen Herbstkleid.
Ihr Rost ist vorübergehend,
wie auch ich hier vorübergehe.
Doch der Nebel
will mir nicht aus dem Kopf.
(Kuno Roth)
Dieses Gedicht stammt aus dem neuesten Band des Berner Lyrikers Kuno Roth. Das ansprechend gestaltete, handliche Buch mit dem Titel «seelensee» enthält Naturlyrik, die durch drei Eigenschaften besonders anspricht: durch sprachliche Klarheit, formale Gestrafftheit und inhaltliche Fokussiertheit. Überlange, sich über mehrere Seiten ergiessende Elegien finden sich in dem Band nicht, auch keine Verschlüsselungen, die beim Lesen zu allzu langem Rätseln zwingen und schliesslich zur Ratlosigkeit führen.
Roths Gedichte halten Augenblicke fest, Wahrnehmungen und Beobachtungen, ausgeschnitten aus der Zeit und sprachlich zum festgefügten Bild gestaltet, ungeschmückt und ungeschminkt. So erstaunt es nicht, dass sich im Band «seelensee» eingestreut auch Gedichte in der Form des japanischen Haikus finden, vier an der Zahl, sozusagen als Eckpunkte des lyrischen Handwerks, wie es Roth versteht: beobachten, festhalten, verdichten – und sich gelassen auf die Wirkung verlassen, die das sprachlich Verfestigte auszuüben vermag.
Wegwarten wecken
Erinnerung an Momente,
als sie uns winkten.
(Kuno Roth)
Wer literarisch schreibt, schreibt meistens Prosa – und wer Prosa schreibt, wendet sich oft dem publikumsträchtigen Genre des Krimis zu. Lyrik hingegen ist ein seltenes Gewächs und darf mit keinem Massenpublikum rechnen, anders als in manchen asiatischen Ländern, wo sich Gedichte grösster Aufmerksamkeit in breiten Bevölkerungsschichten erfreuen.
«Auch ich habe mich einmal an einem Krimi versucht, ihn aber nie abgeschlossen», gesteht Kuno Roth mit einem Lächeln. «Ein Krimi müsste meiner Ansicht nach literarische Qualität haben, nur über Gewalttaten zu schreiben, das liegt mir nicht.»
Der Beobachter
In der Lyrik fand er das zu ihm passende Genre: «Ich schreibe Gedichte aus einer Grundhaltung heraus; ich beobachte gerne, und in meinem neuen Band versuche ich, das beobachtete äussere Geschehen in der Natur mit inneren Zuständen zu verbinden.» Sich schreibend Gefühlen zu nähern – das sei für ihn die Essenz der Poesie, auf den Punkt gebracht in der Formel «»Expression und Reflexion».
Sollte ich mein Leben
vermehrt verwenden,
dem Murmeln der Bäche
zu lauschen?
Ihm in den Flüssen folgen
bis ins Meer,
wo es im Wallen der Wellen
untergeht?
Oder auf.
(Kuno Roth)
«Ich gehe beim Dichten systemisch vor, nicht chronologisch wie in einem Roman», erklärt Kuno Roth. Das passe gut zur «chaotischen Komplexität» der Natur, die in der Kunstform der Lyrik adäquat aufgehoben sei. Nicht zuletzt, weil Lyrik weniger darauf aus sei, die Welt erklären zu wollen; ihr Ziel bestehe vielmehr darin, sich Fragen anzunähern und Resonanz in der Seele zu erzeugen. Das Gelesene zu interpretieren und mitschwingende Fragen individuell zu beantworten, liege bei der Leserschaft.
Was ein Gedicht auslösen kann
Wer was wie interpretiert, ist bei Gedichten deutlich offener als bei anderen Textgattungen, es gehört geradezu zum Wesen der Lyrik. Und Rückmeldungen offenbaren dem Schreiber, der Schreiberin zuweilen überraschende Aspekte des eigenen Textes. «Eine Führungsperson hat zum Beispiel auf mein Mauersegler-Gedicht reagiert – der Mann sagte, ihm sei beim Lesen aufgegangen, dass Menschen, die einem Vorgesetzten folgten, diesen zugleich latent auch verfolgten; und er frage sich, wie das bei ihm sei und was es bedeute. Das Gedicht hat ihn zur Selbstreflexion angeregt, was mich sehr freute.»
FÜHRUNG
Ziellos
rasen
am frühen Abend
Mauersegler im Gruppenverband
zusammenstossfrei umher.
Plötzlich
übernimmt einer
die Führung.
Oder wird er verfolgt?
(Kuno Roth)
Schon im Jugendalter verfasste der in Belp aufgewachsene Kuno Roth humorvolle Bauernregeln, Wortspielereien und Gelegenheitsgedichte zu Vereins- und Familienanlässen. Ernsthaft mit Lyrik begann er sich aber erst im Zuge einer Zusatzausbildung im journalistischen und schriftstellerischen Schreiben zu beschäftigen, im Alter von 40 Jahren. Daraus entwickelte sich – mit der Unterstützung eines Mentors – eine Leidenschaft, die zu einem Lebenselixier geworden ist.
Und fast zu einer Art spirituellen Übung: Dem Begriff der «Schöpfung», wie ihn die jüdisch-christliche Tradition definiere, fühle er sich nahe, sagt Roth. Naturlyrik verstehe er als eine Möglichkeit, den Menschen in rationalen und technisierten Zeiten wieder etwas von Naturempfinden und Spiritualität zu vermitteln. Roths präzise gezeichneten und ästhetisch ausformulierten Sprachminiaturen sind also, wenn man so will, auch eine Art von Verkündigung.