Kindermund 09. Dezember 2025, von Tim Krohn

Und am Ende hängen sie wieder die Sterne auf

Kindermund

Die Kolumne des in Graubünden lebenden Autors Tim Krohn über das Landkind Bigna geht mit diesem Beitrag zu Ende. Bigna verabschiedet sich vom Val Müstair und von «reformiert.».

Bignas Umzug verzögerte sich immer wieder, denn Andri ging es nur schleppend besser. Dann hörten wir nichts mehr und nahmen schon an, wir hätten den Abschied verpasst. Doch als ich an einem der ersten kalten Tage mit den Kleinen vor die Haustür trat, um zuzusehen, wie Jon und Not und andere alte Männer des Dorfs auf Leitern stiegen, um wie jedes Jahr die Adventsbeleuchtung zu hängen, sah ich Chatrina mit zwei Koffern an der Bushaltstelle stehen. Gleich darauf bog Bigna um die Ecke des Nachbarhauses und sprang die Freitreppe zu uns hoch. «Ich dachte, du bist längst weg», sagte ich. «Ohne mich zu verabschieden? Da kennst du mich schlecht.» Das Kind, das kein Kind mehr war, umarmte erst die Kleinen, dann mich, und Cilgia rannte ins Haus, um Renata zu holen.

«Sie hängen wieder die Sterne», sagte ich. «Als du mit vier das erste Mal dabei zugesehen hast, wolltest du Sternehängerin werden, wenn du erst gross bist.» «Inzwischen habe ich andere Pläne. Aber vielleicht komme ich darauf zurück, wer weiss.» Ich sah auf die Uhr. Was liess sich in den zwei Minuten sagen, bis der Bus fuhr? «Wollte nicht Andri euch fahren?», fragte ich. «Natürlich wollte er, der Dummkopf, ich musste es ihm verbieten. Er darf noch gar nicht Auto fahren.» Dann war auch Renata bei uns, sie umarmten sich, Renata winkte Chatrina zu und sagte: «In einer Minute fährt der Bus.»

«Ihr wisst, ich bin schnell», sagte Bigna, als eben der Bus ins Dorf einbog. «Kommt uns besuchen, spätestens im Frühling, wenn wir das Boot klargemacht haben. Und frohe Weihnachten. Und überhaupt.» Eilig umarmte Bigna uns alle nochmals und rannte dann mit langen Schritten zur Haltestelle. Renata fasste mich um die Hüfte, ich fühlte, wie sie in der Kälte zitterte. Gemeinsam sahen wir der androgynen Gestalt nach, die uns so viele Jahre begleitet hatte, dem schönen Kind, das kein Kind mehr war, kein Junge und kein Mädchen, sondern eben Bigna. Jon drehte zum Test die Sterne an, die Kleinen jubelten, dann versuchten sie,  mit der Zunge eine der lose fallenden Schneeflocken zu fangen. Ich winkte noch etwas dem Bus nach. 

Tim Krohn

Der freie Schriftsteller wurde in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair.

Für «reformiert.» schrieb Krohn von Anfang 2017 bis Ende 2025 die Kolumne «Kindermund».