Zwischen Pazifismus und politischer Realität

Ethik

Die Evangelische Kirche in Deutschland hat eine Friedensdenkschrift publiziert. Darin äussert sie sich zu brennenden Fragen der Sicherheitspolitik und provoziert die Pazifisten.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, volatile transatlantische Beziehungen, ein wackeliger Waffenstillstand zwischen Israel und der Hamas: Krisen sind derzeit allgegenwärtig und die Verunsicherung in Europa gross. In vielen Ländern drückt sie sich in steigenden Ausgaben für die Aufrüstung und Diskussionen über die Wehrpflicht aus. Beides ist Kernthema der christlichen Friedensbewegung. 

Vier Dimensionen des Friedens

Die aktuellen politischen Fragen aufgenommen hat die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). Sie hat eine Friedensdenkschrift veröffentlicht, in der sie ihre Positionen der Friedensethik erneuert. Damit möchte sie Denkanstösse und eine Grundlage für Debatten liefern. 

Im Dokument «Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick» bekennt sich die Kirche zwar weiterhin zum titelgebenden Leitbild des gerechten Friedens, gibt dem Schutz vor Gewalt jedoch Vorrang. Er gilt ihr als Voraussetzung für weiteren Dimensionen: die Förderung von Freiheit, den Abbau von Ungleichheiten und den friedensfördernden Umgang mit Vielfalt.

Verwerflich und nötig

Sehr konkret spricht die Friedensdenkschrift aktuelle Herausforderungen an wie Terrorismus, hybride Kriegsführung oder die umstrittenen Waffenexporte an Krieg führende Länder. Eine generelle Pflicht zur Nothilfe durch Waffenlieferungen besteht laut dem Dokument zwar nicht. Allerdings könne die Unterstützung durch Waffen nach gründlicher Einzelfallabwägung ethisch verantwortbar sein, wenn es um Beistand für einen völkerrechtswidrig angegriffenen Staat geht.

Atomwaffen bewertet die Denkschrift als ethisch verwerflich, weil sie dem Konzept eines gerechten Friedens zuwiderlaufen. «Weder ihre Produktion noch ihr Besitz und schon gar nicht ihr Einsatz sind ethisch vertretbar», betont Friederike Krippner im Gespräch mit «reformiert.». 

Die Direktorin der Evangelischen Akademie zu Berlin ist Mitautorin der Friedensdenkschrift. Darin wird jedoch festgehalten, dass der Besitz von Atomwaffen noch politisch notwendig sein könne. Die Existenz von Nuklearwaffen sei eine Realität, sagt Krippner. «Würde Deutschland auf nukleare Teilhabe einseitig verzichten, wäre die Mitgliedschaft in Bündnissen wie der Nato gefährdet.» Ein Dilemma, das derzeit nicht aufgelöst werden kann, wie die Autoren der Denkschrift feststellen. Auf Abrüstung müsse allerdings gemeinsam unbedingt gedrängt werden.  

Positionen abgeräumt

Der mennonitische Friedenstheologe Fernando Enns ist über derartige Positionen entsetzt. Beim Thema Nuklearwaffen sei die Kirche mit einer zuvor kompromisslosen Ablehnung schon weiter gewesen, sagt er. Enns lehrt an der Universität Hamburg, seine aus der Täuferbewegung hervorgegangene Kirche stehe «für einen verantwortungsbewussten Pazifismus».  

Mit der Friedensdenkschrift sieht der Theologe «verschiedene Positionen abgeräumt, die sich in der evangelischen Kirche längst durchgesetzt hatten». Neben Nuklearwaffen nennt er «die Kriegsdienstverweigerung als das deutlichere Zeugnis christlichen Glaubens». 

Tatsächlich propagiert die Denkschrift bezüglich des Wehrdienstes zwar Freiwilligkeit und befürwortet einen Service citoyen. Sie stellt aber auch fest, der Dienst an der Waffe könne als Engagement für den Schutz vor Gewalt, für Sicherheit und Frieden eine Form des Dienstes am Nächsten sein, den Christinnen und Christen aus einer inneren Überzeugung leisten würden.   

Christen an der Waffe

Für die Mitautorin Krippner sind Christen im Militär gerade wegen ihrer ethischen Orientierung wichtig. «Eine Bundeswehr ohne Christinnen und Christen will ich mir gar nicht vorstellen.» Und ebenso wenig möchte sie sich eine Welt «ohne radikale Pazifistinnen und Pazifisten vorstellen, die kompromisslos auf die Sinnlosigkeit von Krieg und Gewalt aufmerksam machen». 

Die entscheidende Grundsatzfrage mit Blick auf die Denkschrift sei aber: «Wie viel politische Wirklichkeit lässt die Kirche in sich hinein?»  Die Theologin sieht Christen seit dem Urchristentum im Ringen mit der radikalen Botschaft der Feindesliebe Jesu und der politischen Realität, die sie auch mitgestalten wollen. «Nämlich in dem Moment, in dem sie Verantwortung übernehmen.» Deshalb sei die Kirche in der Pflicht, auch Entscheidungsträgern in Politik und Militär mit der Denkschrift Orientierung zu bieten. 

Missverstanden und gelobt

In der medialen Debatte sieht Krippner die Friedensdenkschrift häufig missverstanden. Insgesamt habe sie überwiegend dankbare Reaktionen erhalten, sagt sie. «Eben weil das Dokument die aktuellen Fragen konkret anspricht, realpolitische Lösungen aufzeigt und damit Hoffnung schenkt.»  

Fernando Enns dagegen fragt, ob die evangelische Kirche nicht Positionen vertrete, «die sich am politischen Mainstream orientieren». Anstatt zu versuchen, «das alternative, friedensbildende Potenzial des Evangeliums in die Politik einzubringen».