Wenn eine Rakete über das israelische Dorf Hurfeish fliegt, heulen die Sirenen. Zehn Sekunden bleiben Familie Azzam, um in den Schutzraum ihrer Wohnung zu hasten. Fängt die israelische Luftabwehr die Rakete noch am Himmel ab, hören sie ein Donnern. Wenn nicht, so kracht es dumpf, manchmal zittern die Wände des Hauses.
Das Donnern der Raketen
Die Hisbollah-Miliz und Israel beschiessen sich mit Raketen. Im christlichen Dorf Rmeisch auf der libanesischen Seite und im drusischen Hurfeish leben die Menschen mit der Angst.
Rauchpilz in der Ferne
Fliegt eine Rakete über das libanesische Dorf Rmeisch, dann weiss Familie Alam das erst, wenn sie den Knall hört. Ihr Haus liegt am Hang, von der Terrasse aus sehen sie den dunklen Rauchpilz, der nach einem Raketeneinschlag in den Himmel steigt. In dem Moment wissen sie: Die Rakete hat Rmeisch verfehlt.
Die Kinder rennen vom Garten ins Haus, das nicht mehr als symbolisch Schutz bietet. Bunker gibt es hier keine, und einen Keller hat die Familie auch nicht.
Weniger als sechs Kilometer trennen die Häuser von Familie Azzam und Familie Alam. Doch die Eltern werden sich nie treffen, die Kinder nie zusammen spielen. Ihre Länder sind verfeindet, zwischen den Türen ihrer Häuser verläuft eine der gefährlichsten Grenzen der Welt.
Im Schatten von Gaza
Während grosse Aufmerksamkeit auf dem Gaza-Krieg liegt, beschiessen sich im israelisch-libanesischen Grenzgebiet seit sieben Monaten die islamistische Hisbollah-Miliz und die israelische Armee.
In den ersten fünf Monaten startete die Hisbollah laut dem Washington Institute etwa 830 Angriffe auf Israel, dessen Militär mit 1560 Gegenangriffen reagierte. Bis Anfang Mai wurden mindestens 73 Zivilisten und rund 300 Kämpfer im Libanon getötet. In Israel waren es neun Zivilisten und 14 Soldaten. Während Politiker und Analysten darüber spekulieren, ob und zu welcher Zeit hier ein grosser regionaler Krieg ausbrechen könnte, haben die Bewohnerinnen und Bewohner Angst um ihre Häuser und ihre Liebsten. Sie können dem Krieg nicht entkommen.
Die Einsamkeit der Kinder
Im libanesischen Rmeisch startet Eliane Alam den Motor ihres klapprigen 3er-BMWs. An diesem Samstag Mitte Mai trübt Dunst die Sicht. Vielleicht ist es deshalb relativ ruhig. Nur ab und zu ist der dumpfe Knall eines Raketeneinschlags zu hören. Eliane Alam erkennt am Geräusch, dass die Angriffe mehrere Kilometer entfernt sind.
Salim, ihr jüngster Sohn (8), lässt sich auf die Rückbank des Autos plumpsen. «Die letzten Monate haben ihn sehr verändert», sagt Alam. Er sei anhänglich geworden und wolle nicht mehr aus dem Haus gehen. Heute soll er wieder Zeit mit anderen Kindern verbringen.
Gespenstige Ruhe
Alam fährt los durch das christliche Dorf, über dem eine gespenstige Ruhe liegt. Fast alle Geschäfte sind geschlossen, nur wenige Menschen bewegen sich auf der Strasse. Sie bremst vor dem Gemeindehaus, in dem seit wenigen Wochen eine christliche Organisation samstags Nachhilfeunterricht für die Kinder des Dorfes organisiert. Ein Angebot, für das Alam dankbar ist.
Nur einen Tag nach dem Hamas-Angriff am 7. Oktober begann die Hisbollah, Israel in Solidarität mit den Palästinensern zu beschiessen, und Israel schoss sofort zurück.
Seither sind sämtliche Schulen in Rmeisch und den anderen Dörfern des Südlibanons geschlossen. Elianes zehnjähriger Sohn Jhony hat Online-Unterricht, und die Lehrerin von Salim schickt mehrmals in der Woche aufgezeichnete Videos, die sich der Junge so lange anschauen soll, bis er den Inhalt verstanden hat. «Ich habe trotzdem das Gefühl, dass die Kinder ein ganzes Schuljahr verlieren», sagt Alam.
Die Angst in den Augen
Auf der anderen Seite der Grenze sorgt sich Asala Azzam ebenfalls um ihre Buben. Shedi (3) und Hamoudi (7) fragen sie oft: «Mama, wann hört es auf?». Sie hätten sich etwas an den Krieg gewöhnt und schliefen besser, doch mitten in der Nacht kämen sie manchmal ins Schlafzimmer der Eltern. «Sie weinen nicht», sagt Vater Jalal, «aber ich sehe die Angst in ihren Augen.» Er erzählt, die Kinder könnten mittlerweile das Geräusch der Angriffe von den Gegenangriffen unterscheiden.
Es ist Sonntagmittag, der erste Tag der Woche in Israel, und eben kam Hamoudi von der Schule zurück, die vor drei Monaten wieder öffnete. In anderen Gemeinden nahe der Grenze bleiben die Schulen bis heute geschlossen.
Viele sind gegangen
Zehntausende Menschen haben die Grenzregion verlassen, sie leben in Hotels oder bei Verwandten im Landesinneren. In den vergangenen Monaten sind einige in den Norden zurückgekehrt und mit ihnen ein Stück Alltag. Doch die 32-jährige Azzam, die endlich wieder drei Tage in der Woche als Buchhalterin in einer Fleischfabrik arbeiten kann, erzählt, dass sie noch immer wenig zu tun habe.
Wie fast alle in Hurfeish sind die Azzams Drusen, eine religiöse Minderheit in Israel. Der Ort liegt knapp ausserhalb der staatlich definierten Evakuierungszone, obwohl er nur wenige Kilometer von der Grenze entfernt ist. Aber die meisten der 7000 Einwohner würden ihre Heimat sowieso nicht verlassen.
Erstarkte Miliz
Im Krieg 2006, als Israel das ausgeklügelte Luftabwehrsystem Iron Dome noch nicht entwickelt hatte, schlugen viele Raketen im Dorf ein. Die Drusen blieben trotzdem. Es liege in ihrer Mentalität, ihr Zuhause zu verteidigen, sagt Vater Jalal. Und es sei schwieriger für sie, ihre Religion an einem Ort zu leben, wo kaum Drusen wohnten.
Für die Familie Alam ist der Glaube weniger ein Grund fürs Ausharren. Denn Rmeisch zählt zu den wenigen christlichen Dörfer südlich des Litani-Flusses. Seit dem letzten Krieg zwischen der Hisbollah und Israel vor 18 Jahren hat sich die schiitische Miliz in dem Gebiet weiter ausgedehnt. Libanesische Christen leben vor allem nördlich von Beirut und in der Hauptstadt selbst.
Die Stadt war zu teuer
Als der Konflikt im Oktober erneut eskalierte und die meisten Libanesen jeden Tag damit rechneten, Israel könnte ihrem Land den Krieg erklären, floh Familie Alam nach Beirut. Schon damals waren die Mietpreise durch den Krieg in die Höhe geschossen, deshalb kamen sie bei Alams Eltern unter.
Doch bereits nach einer Woche merkten sie: Das Leben in der Hauptstadt ist zu teuer. Alam, die eigentlich als Mathelehrerin arbeitet, bekommt seit der Schulschliessung lediglich die Hälfte ihres Lohns. Ihr Mann, der bei der libanesischen Armee angestellt ist, verdient ohnehin nicht viel. Der Staat ist pleite, auch die Soldatinnen und Soldaten kann er kaum noch bezahlen. Die Armee veranstaltet inzwischen sogar Helikopterflüge für Touristen, um irgendwie an Geld zu kommen.
Ein bankrotter Staat
Obwohl sich die Situation im Südlibanon nicht verbessert hatte, fuhr die Familie noch im Oktober zurück nach Rmeisch. Kurz nach Weihnachten schlugen Teile einer Rakete ein Loch in den Balkon ihrer Nachbarn. Die Familie traute sich eine Woche nicht aus dem Haus, doch danach arrangierten sie sich: «Früher bin ich noch bei jedem Knall ans Fenster gerannt, um zu sehen, wie weit der Einschlag entfernt war. Heute schaue ich nicht einmal mehr auf», erzählt Eliane Alam.
Im Gegensatz zum bankrotten Libanon unterstützt Israel die Evakuierten und lokale Unternehmen zum Teil finanziell. In Hurfeish sorgen sich Menschen wie der 70-jährige Monib Fares trotzdem.
Der frühere Sportlehrer und Journalist zieht in der Konditorei seiner Frau ein grosses Blech mit frisch gebackener Baklava aus dem Ofen. Er sagt, er habe vom Staat für Oktober und November 12 000 Shekel erhalten, umgerechnet 2900 Schweizer Franken. Ein Zustupf, der aber nicht ausreiche, sagt er. Seither habe er einen Kredit bei der Bank aufnehmen müssen. Denn seit die Raketen fliegen, kommt nur noch selten Laufkundschaft in seinen Laden.
Eigentlich lebt Hurfeish von israelischen Ausflüglern, die am Wochenende die Natur geniessen wollen. Die Wirtschaft konzentriert sich auf Pensionen, kleine Läden, Restaurants und etwas Landwirtschaft. Die einzige Gästegruppe, die Fares nun verpflegte, waren vom israelischen Militär. Dafür habe er aber kein Geld erhalten.
Bürger zweiter Klasse
Drusen sind dem Staat gegenüber sehr loyal, im ganzen Dorf flattern neben der bunten Drusen-Flagge auch zahlreiche israelische. Plakate erinnern an gefallene drusische Soldaten. Sie werden in Israel als starke Kämpfer geschätzt.
Dennoch fühlten sich die Drusen als «Bürger Level B», sagt Fares. Sie gälten zwar als gute Araber, seien letztendlich aber trotzdem Araber. Da derzeit viele Männer nicht zu Hause sind, weil sie im israelischen Militär dienen, wurde in Hurfeish eine Bürgerwehr zusammengestellt, um sich bei einem Angriff der Hisbollah verteidigen zu können.
Dorfpolizist gegen Miliz
In Rmeisch macht Kamal Jarjour, 34, Dorfpolizist mit Kruzifix-Tattoo am Hals, Jagd auf Hisbollah-Kämpfer. 16 Einschläge zählte das Washington Institute zwischen Oktober und März. Würde man Kamal fragen, warum die Anzahl Treffer um ein Zehnfaches geringer ist als in den beiden Nachbardörfern, so erzählte er stolz von seiner Arbeit.
Wie an jedem Tag fährt er die leeren Strassen seines Heimatdorfes ab. Die wasserblauen Augen halten Ausschau nach fremden Autos.
Wenige Tage nach Beginn der Gefechte hätten sich die Männer des Dorfes zu einer Art Bürgerwehr zusammengeschlossen, erzählt er. Sehen sie ein Auto, das niemandem im Dorf gehört, verfolgen sie es so lange, bis es Rmeisch verlässt.
Ein fremder Krieg
Um zu verdeutlichen, warum das wichtig ist, zeigt Jarjour später Videos auf seinem Handy. Auf einem sind Raketen zu sehen, die zwischen Pinien abgelegt wurden. Auf einem anderen eine Zündschnur, die über ein fein gejätetes Feld führt. Hisbollah-Kämpfer würden kurz anhalten, eine Rakete samt Abschussrampe deponieren und sogleich wieder weiterfahren. «Das dauert keine zehn Minuten.» Wenn die israelische Armee zurückschiesse, seien die Kämpfer längst verschwunden.
«Das ist nicht unser Krieg», sagt Jarjour. «Er hilft uns in keiner Weise: Als Israel 2006 in den Libanon einmarschierte, haben die Palästinenser da etwas für uns getan?»
Ein Bier in Beirut
Vor seiner Konditorei schimpft auch Monib Fares über die Hisbollah. Um die Grenze zu schützen, müsse Israel deren Infrastruktur zerstören, sagt er. «Ich sorge mich, dass ein grosser Krieg ausbricht.»
Zwar haben viele Leute, die im Norden von Israel ausharren, Angst vor den Raketen, denn die Miliz ist um ein Vielfaches besser ausgerüstet als die Hamas. Doch noch mehr fürchten sie, dass die Kämpfer ein ähnliches Massaker verüben wollen wie die Hamas im Süden Israels.
Die Hisbollah müsse sich hinter den Litani-Fluss zurückziehen, sagt Fares. Das verlangt auch eine UNO-Resolution. Er schlägt vor, die libanesische Regierung und Armee zu stärken, damit sie die Hisbollah verdrängen könne. «Dann könnte ich bald nach Beirut fahren und dort ein Bier trinken.»
Untätige Politiker
«Niemand kann die Hisbollah einfach aus dem Land schmeissen, sie ist ja auch in den Dörfern zu Hause», sagt Eliane Alam. Das eigentliche Problem des Libanons seien ohnehin die Politiker. «Alle sagen, sie wollen keinen Krieg, aber niemand tut etwas für den Frieden.»
Die Menschen zermürbe die Ungewissheit, nicht zu wissen, wie lange die Gefechte noch anhalten. Nachts liegt Alam oft wach. Und sie denkt manchmal, ein grosser Krieg hätte Vorteile: «Dann müssten die Politiker endlich handeln, internationale Diplomaten würden einen echten Friedensplan entwerfen», sagt sie. «Im Moment sind wir allen egal.»