«China wird versuchen, das Machtvakuum zu nutzen»

Buddhismus

Der Dalai Lama hat einen Nachfolger nach seinem Tod in Aussicht gestellt. Tibetologe Robert Barnett über einen Reinkarnationsentscheid mit höchst politischen Konsequenzen. 

Im tibetischen Buddhismus kann  der Dalai Lama selbst entscheiden, ob er wiedergeboren wird oder nicht. Nun hat er zum 90. Geburtstag seine Reinkarnation nach  dem Tod angekündigt. Hat Sie diese Nachricht überrascht?  
Robert Barnett: Er hat den Entscheid schon in seinem jüngsten Buch angedeutet. Zuvor hatte er aber andere Möglichkeiten ins Spiel gebracht. Etwa, dass er bereits vor dem Tod in einen anderen Körper gehen könne, das nennt sich emanieren. Oder, dass er vor dem Tod bereits ein Kind als Nachfolger erkennen könnte. Beides hätte die Übergangszeit erleichtert. Nun entschied er sich für den traditionellen Weg.

Warum?
Theologisch sind die anderen Varianten zwar möglich, es gibt aber wenige Beispiele dafür in der Geschichte. Die tibetische Gemeinschaft ist über die ganze Welt verstreut, in China werden die Tibeter sehr abgeschottet. Es wäre schwierig gewesen, ihnen einen weniger traditionellen Entscheid zu vermitteln. 

Robert Barnett

Robert Barnett

Der Brite ist Experte für Moderne Geschichte und Kultur von Tibet und  für Nationalitätsfragen in China. An der New Yorker Columbia University  baute er den Studiengang Modern Tibetan Studies auf, den er 18 Jahre leitete. Auch unterrichtete er zeitweise in Princeton und an der University of  Tibet in Lhasa. Seit seiner Pensionierung forscht er als Professor an  der University of London.

Der Dalai Lama hatte auch angedeutet, er könne der letzte Dalai  Lama sein. Wäre das wirklich eine Option gewesen?
Er ist ein buddhistischer Dialektiker, der fixe Ideen wie «das Selbst» oder «die Realität» immer wieder infrage stellt. Das machte er in diesem Fall mit kulturellen und politischen Traditionen. Zudem war die Diskussion ein Signal an China, das ihm vorwirft, wie ein feudaler Herrscher zu regieren. 2011 hat er die politische Macht an ein Parlament abgegeben. Nun fragte er die Gemeinschaft, ob er als spiritueller Anführer zurückkehren soll. Sie hat ihn darum gebeten. So zeigt er, dass er eine Art demokratische Legitimierung möchte, anders als Chinas Regierung, die mit Härte regiert. Er ist in mancherlei Hinsicht Traditionalist, aber auch ein wichtiger Modernisierer und Stratege, der auf die Schwächen der chinesischen Führung hinweist.

China hat angekündigt, der nächste Dalai Lama müsse vom Regime genehmigt werden.
Das wird so kolportiert, doch die Ansprüche gehen weit darüber hinaus. 1995 hat das Regime das Vorgehen verschärft. Es will nun bei der Suche nach einem Nachfolger bei jedem einzelnen Schritt mitreden, selbst bei der Grundsatzfrage, ob ein Lama überhaupt reinkarnieren darf. 

China wird versuchen, das Machtvakuum für seine eigenen Ziele zu nutzen.

Befürchtet wird, Peking könne einen eigenen Dalai Lama bestimmen. Dann gäbe es zwei geistliche Führer. Ist das wahrscheinlich?
Davon gehen viele Beobachter aus. China ist offenbar der Ansicht, es brauche einen regimetreuen Dalai Lama im Land, um die Tibeter für sich zu gewinnen. Andererseits besteht die Theorie, China wolle mit der Ankündigung primär Verwirrung in der Diaspora stiften oder Druck auf das Ausland machen, seine Position zu unterstützen.

Die tibetische Gemeinschaft ist relativ klein, der Dalai Lama im Exil. Warum beschäftigt sich Peking so obsessiv mit ihm?
Im Vordergrund steht weniger die Angst vor einem gewaltsamen Aufstand als das Bedürfnis nach einem tibetischen Anführer, der sein Volk überredet, Chinas Regierung zu akzeptieren. Ein zentrales kommunistisches Prinzip lautet: Es darf nur einen Anführer geben, und der muss aus der Partei kommen. Ein charismatischer Anführer wie der Dalai Lama, der Staatschef Xi Jinping mit seiner persönlichen Strahlkraft in den Schatten stellt, darf nicht sein.

Nach dem Tod des Dalai Lama werden zehn, zwanzig Jahre vergehen, bis ein Nachfolger übernimmt. Welche Gefahren birgt das?
Traditionell übernehmen Regenten, während der neue Dalai Lama heranwächst. Sie sind weniger starke Führer, und es gab immer wieder Probleme mit ihnen. So starben einige Dalai Lamas im 18. und 19. Jahrhundert sehr jung, man fragte sich, ob das daran lag, dass die Regenten ihre Macht nicht abgeben wollten. Das Interregnum ist eine schwierige Zeit. China wird versuchen, das Machtvakuum für seine eigenen Ziele zu nutzen. 

Jahrzehnte im Exil

Der 14. Dalai Lama Tenzin Gyatso kam 1935 in Osttibet zur Welt. Mit knapp zwei Jahren entdeckten ihn Mönche als Wiedergeburt seines Vorgängers. Im  Alter von 23 Jahren floh er vor chinesischen Repressionen nach Indien,  wo er seitdem lebt. 1989 erhielt er den Friedensnobelpreis.  Weltweit gibt es geschätzt sieben Millionen Tibeter, der grösste Teil lebt  in China, vor allem in der Verwaltungseinheit Autonomes Gebiet Tibet. Die grösste Exilgemeinde ist im indischen Dharamsala, dort hat der Dalai Lama umfangreiche Infrastruktur aufgebaut. Doch diese Gemeinschaft ist von  Abwanderung bedroht, viele Tibeter zieht es in wirtschaftlich stärkere  Länder. Mit rund 4000 Personen gilt die Schweizer Exilcommunity als  die grösste Europas. 

Der Dalai Lama gilt als integrative Figur. Könnten dann auch  Spannungen innerhalb der Gemeinschaft zutage treten?
Im tibetischen Buddhismus gibt es verschiedenste Schulen mit jeweils eigenen Lehrern und Anführern, der Dalai Lama ist also kein Äquivalent zum Papst. Dennoch hat er eine herausragende Stellung, und es ist ihm als spirituelles Oberhaupt auf einzigartige Weise gelungen – mit wenigen Ausnahmen ultrasektiererischer Gruppen – die Schulen hinter sich zu vereinen. Der Respekt, den er geniesst, wird nicht einfach an einen anderen Dalai Lama übergehen. Insofern besteht schon die Gefahr von Spaltungen.

Dennoch stand auch der Dalai Lama in der Vergangenheit in der Kritik. Insbesondere jüngere Tibeter sind mit dem «mittleren Weg», der  Autonomie, aber keine Unabhängigkeit vorsieht, unzufrieden.
Mein Eindruck ist schon, dass die überwältigende Mehrheit hinter seinem Kurs steht. Sicher gibt es Kritiker, die insbesondere in den sozialen Medien sehr präsent sind. Aber selbst wenn sich eine Mehrheit die Unabhängigkeit wünscht, fehlt doch ein klarer Plan, sie zu erreichen. Der «mittlere Weg» bietet eine Strategie, viele sehen dies als beste Chance an. 

Auch wenn einige Aktivisten das Gegenteil behaupten: Die Situation für die Uiguren in Xinjiang ist viel dramatischer und extremer.

Chinas Regierung scheint stärker als bisher gegen die tibetische Kultur vorzugehen. Müssen Tibeter leiden wie die muslimischen Uiguren?
Die tibetischen Kinder sollen nun schon in Kindergärten Chinesisch sprechen, Schulen und Klöster dienen zunehmend der Umerziehung. Aber auch wenn einige Aktivisten das Gegenteil behaupten: Die Situation für die Uiguren in Xinjiang ist viel dramatischer und extremer.

Wie erklärt sich das unterschiedliche Vorgehen gegen die Religionen?
China hat in Xinjiang gewaltsame Revolten erlebt. Der Dalai Lama hat aber immer auf Gewaltfreiheit gepocht. Obwohl Peking ihn als einen gefährlichen Separatisten stilisiert, geht das Regime wohl dennoch nicht davon aus, dass Terror und Gewalt zum Problem werden. Hinzu kommt: Den tibetischen Buddhismus beanspruchen die Chinesen als einheimische Religion, obschon er ursprünglich aus Indien kommt. Christentum und Islam hingegen behandelt der Staat als fremde Religionen. 

In Tibet wäre der Dalai Lama in dem, was er erreichen könnte, sehr eingeschränkt. Wahrscheinlicher ist eine Wiedergeburt in einem Land mit einer grossen tibetischen Gemeinschaft, das dem politischen Druck Chinas standzuhalten vermag.

Unermüdlich macht sich der Dalai Lama im Ausland stark für die  Tibeter. Die Unterstützung der Staatengemeinschaft ist enorm  wichtig. Wie schätzen Sie diese ein?
Das Interesse der Medien am Dalai Lama ist weiterhin gross. Politisch wurde das Anliegen der Tibeter im Lauf der Jahre aber immer wieder tendenziell vor allem von Vertretern rechter Parteien in den Fokus gestellt, die für eine anti-chinesische Politik einstanden. Wie etwa der ehemalige US-Aussenminister Mike Pompeo. Fortschritte für die Tibeter gab es aber vor allem, wenn sich Politiker verschiedener  Parteien einsetzten, wie in den 90ern.

Der Dalai Lama hat angekündigt, dass er in einem freien Land  reinkarnieren wird. Spielt auch hier die Politik eine Rolle?
Ein Lama muss nicht reinkarnieren, er macht das auf Wunsch der Anhängerinnen und Anhänger mit dem Ziel, allen Lebewesen hilfreich zu sein. Also ist es theoretisch sinnvoll, in einem Land wiedergeboren zu werden, in dem er auch helfen kann. In Tibet wäre der Dalai Lama in dem, was er erreichen könnte, sehr eingeschränkt. Wahrscheinlicher ist eine Wiedergeburt in einem Land mit einer grossen tibetischen Gemeinschaft, das dem politischen Druck  Chinas standzuhalten vermag. Dafür kämen etwa Indien oder die USA infrage.