Glaube 29. Mai 2024, von Anouk Holthuizen

«Das Gute wird das Böse nicht mit Bösem besiegen»

Interview

Eine glaubwürdige Kirche wendet sich gegen jegliche Form von Gewalt, sagt der Friedentheologe Fernando Enns. Die gesamte Theologie wolle nichts anderes als Frieden. 

Wir leben in kriegerischen Zeiten. Was löst das bei Ihnen aus?

Die aktuelle Situation bestätigt mir als Theologen die Notwendigkeit, Frieden ganz ins Zentrum meiner Tätigkeiten zu stellen und in diesen Bemühungen nicht nachzulassen. In den aktuellen theologischen Diskussionen scheinen Frieden und Gerechtigkeit oft nur ein Thema unter vielen zu sein, Bestandteile der theologischen Ethik. Aber die gesamte Theologie, auch die Menschwerdung Gottes in Jesus Christus, will nichts anderes als Frieden für diese Welt. 

Theologie ist per se Friedenstheologie?

Ja. Und wenn man das verstanden hat, dann verändert sich das theologische Nachdenken und das politische Engagement von Kirchen. Handelt die Kirche entsprechend, besteht zumindest die Chance, dass das christliche Friedenszeugnis einigermassen gehört wird und die Kirche glaubwürdig ist. 

Wie beurteilen Sie das politische Engagement der Kirche in Konflikten?

Das ist sehr unterschiedlich. Viele der ehemaligen Staatskirchen versuchen sich im Mainstream zu verordnen und neigen dazu, mit der Mainstreampolitik mitzugehen. Sie stimmen ein in die Kriegslogik der Regierung in ihrem Land, nicht nur in Russland und der Ukraine, auch an anderen Orten. Ich als Mennonit, und auch andere kleine Kirchen, haben den Vorteil, dass wir keine Mehrheiten gewinnen und uns daher nicht nach dem Mainstream richten wollen. Uns geht es stets um die Glaubwürdigkeit des christlichen Zeugnisses. Und so schauen wir immer, wie wir dieses in den politischen Gegebenheiten aufrechterhalten können. 

Aber wenn ein Land überfallen wird: Ist es da nicht legitim, sich zu wehren statt zu ergeben? Mit Mainstream hat das doch wenig zu tun.

Natürlich darf und soll man sich wehren, wenn man überfallen wird. Das ist unstrittig. Entscheidend ist aber die Frage: Mit welchen Mitteln? Ist das instinktive Verhalten, nach Waffen zu greifen und selbst mit Gewalt zu reagieren die einzige Möglichkeit? Da gibt es so viel mehr! Die leitende Frage muss doch sein: Wie können wir Gewaltspiralen durchbrechen und Eskalationen vermeiden?

Sollen sich die Kirchen also selbst im Ukrainekrieg für einen baldigen Frieden stark machen?

Ja, sie tragen die Verantwortung für das christliche Friedenszeugnis. Das müsste dazu führen, dass sich Christenmenschen nicht zuerst nach dem richten, was irgendwelche Patriarchen verkünden, sondern dass sie viel stärker den Kontakt suchen zu den Menschen in den Gemeinden. Dass sie in Verbindung mit der Zivilgesellschaft versuchen, für Frieden zu arbeiten. Die Kirche sollte Beziehungen zu und zwischen Gemeinden in Russland oder der Ukraine suchen und nutzen. Eine von kirchlicher Seite unterstützte Machtpolitik führt nicht zum Frieden, sondern unterstützt die Eskalation. Das kann nicht im Sinne des christlichen Glaubens sein. Die Kirche muss jeden Staat zur Rechenschaft ziehen und verantwortlich halten. 

Eine von kirchlicher Seite unterstützte Machtpolitik führt nicht zum Frieden, sondern unterstützt die Eskalation. Das kann nicht im Sinne des christlichen Glaubens sein.

Können Sie mir Konflikte nennen, wo die Kirche dieses Wächteramt ausübt?

Die Christinnen und Christen in Palästina setzen sich stark für gewaltfreie Lösungen ein. Seit Jahrzehnten leisten sie gewaltfreien Widerstand, aber sie werden kaum wahrgenommen. Trotzdem lassen sie nicht nach. Christsein ist eine Haltung, die Bergpredigt ist von Gewaltfreiheit geprägt. Christenmenschen gehen davon aus, dass der andere, und sei es der Feind, ein Ebenbild Gottes ist. In jedem Menschen begegnet mir Gott. Wie kann ich dann zur Waffe greifen und ihn töten? 

Würde sich die Ukraine nicht verteidigen, gäbe es sie nicht mehr. Für Gewaltlosigkeit zu plädieren, ist doch naiv.

Ich versuche zu verstehen, warum man das für naiv hält. Diese Haltung ist vermutlich angstgeleitet. Man ist getrieben von der Angst, das Böse könnte am Ende auch uns erreichen. Sicherlich spielt auch der legitime Wunsch mit, dass Angegriffene sich schützen dürfen, und wir sie nicht allein lassen können. Vor der Gewalt verschliesse ich auch nicht die Augen. Ich vertrete eine verantwortungsbewusste Gewaltfreiheit und schaue so auf jeden Konflikt. Wird es die Ukraine weiterhin geben, wenn wir immer mehr Waffen liefern? Welche Ukraine haben wir denn im Sinn? Ein Schlachtfeld mit Tausenden von traumatisierten Menschen?

Naiv nach dieser Argumentation also die Aufrüstung.

Ja, man kann das Argument der Naivität umdrehen. Ich halte es für naiv zu glauben, dass man, wenn man immer mehr Waffen schickt, Menschenleben rettet. Diese Logik erschliesst sich mir nicht. Ich möchte niemanden damit beleidigen, aber diese Haltung ist instinktgeleitet. Doch ich möchte meinen Kopf gebrauchen und alle auffordern, darüber nachzudenken, wie wir diese Gewaltspirale anhalten können und wie wir einen gemeinsamen Frieden bauen können, mit den Menschen in der Ukraine und sicher auch mit denen in Russland. 

Angesichts der brutalen Tötungen und Vergewaltigungen ist das sehr anspruchsvoll.
Ja, und er verschliesst auch nicht die Augen vor der Bösartigkeit der Menschen. Er nimmt die Bösartigkeit von politischen Mächten sehr ernst und schaut mit den Opfern auf die Situation. Aber gerade weil es so schrecklich ist, müssen wir uns ernsthaft Gedanken darüber machen, wie wir das stoppen können. Die einfachste Lösung scheint zu sein, dass wir genauso so böse werden wie die anderen im Glauben, wir dürften das, denn wir sind ja die Guten. Das Gute wird das Böse aber nicht mit Bösem besiegen. Nein, es muss andere Wege geben! 

Die einfachste Lösung scheint zu sein, dass wir genauso so böse werden wie die anderen im Glauben, wir dürften das, denn wir sind ja die Guten. Das Gute wird das Böse aber nicht mit Bösem besiegen.

Ein Beispiel, wie sich Kirchen auf staatlicher Ebene für Frieden einsetzen, ist Kolumbien. In den Friedensverhandlungen zwischen der Regierung und der Rebellengruppe EMC vertreten Sie den Ökumenischen Rat der Kirchen. Was kann die Kirche dort erreichen?

Die Regierung wollte explizit die Kirche dabeihaben, nicht nur Garantiestaaten wie Norwegen und die EU, die den Prozess unterstützen. Nun sind der Vatikan und der ÖRK zugegen, um die Gespräche zu begleiten und teilweise zu moderieren. Um zwischen Konfliktparteien vermitteln zu können, müssen die Vermittler von beiden Seiten anerkannt sein. In Kolumbien geniesst die Kirche hohes Ansehen, auch unter kriminellen Gangs. 

Womit wurde «das Böse» in Kolumbien besiegt? 

Jedenfalls nicht indem die eine Seite die andere niedergerungen hatte, sondern weil eine Seite sagte <Sollen wir nicht aufhören mit dieser Gewalt und Unsicherheit? Wir haben alle Familie, wir wollen doch alle ein gutes Leben haben.> Mich beeindruckte, wie stark die Menschen, die jahrzehntelang in bestimmten Ideologien verstrickt waren und Menschen töteten, irgendwann bereit waren, zuzuhören und Frieden zu wollen. Der Wunsch nach Frieden kam nicht von oben, sondern von unten, vom Volk, das am meisten von Gewalt betroffen war. Sie, die allen Grund zur Rache gehabt haben, wollten nicht mehr, während die Oberen, die Eliten, immer noch der Meinung waren, Gewalt müsse mit Gewalt bekämpft werden. Das ist für mich ein Lehrbeispiel. 

Wie ist da die Erfahrung in anderen Konfliktgebieten?

Was in Kolumbien passierte beobachten wir auch in anderen Ländern. Aber natürlich haben Menschen, die direkt von Gewalt bedroht sind, den Wunsch nach Sicherheit. Sie rufen den Staat an, sie zu schützen. Ich denke da an den Norden Nigerias, wo Christen niedergemetzelt werden und zu Hunderttausenden flohen. Sie sagten mir <Wir wissen, dass wir unsere Feinde lieben und die andere Wange hinhalten sollen, aber was machst du, wenn du keine Wange mehr hast?>. Da verstehe ich den Ruf nach staatlicher Gewalt. Sonst bewaffnen sie sich irgendwann selbst und gehen selbst in die Gewaltspirale hinein. Ich bin nicht gegen das staatliche Gewaltmonopol. Im Gegenteil, das ist sinnvoll. Aber die Zivilbevölkerung will nicht Gewalt. Es sind ganz normale Menschen, die zwischen die Fronten geraten sind. Sie wollen weder Gewalt erleben noch selbst anwenden. 

Die Kirchen können also ganz viele Menschen erreichen, und das ist fantastisch. Diesen Reichtum müssen wir nutzen, um uns füreinander einzusetzen.

Was kann der Ökumenische Rat der Kirchen tun ausser Präsenz markieren in Friedensverhandlungen?

Wir zeigen, dass sich die Kirche für die Menschen auf der ganzen Welt interessiert. Zum Beispiel trifft sich der Exekutivausschuss des ÖRK im Juni in Bogota, um sich mit der Regierung und auch mit den Communities auszutauschen. Der ÖRK versucht permanent, Verbindungen aufrecht zu erhalten, auch nach Russland und in die Ukraine, oder dem Sudan, Israel und Palästina. Die Kirchen haben Verbindungen in fast jede Ecke der Welt, und das ist einzigartig. Wir können mit dem Erzbischof von Bogota besprechen, was wir zum Frieden beitragen können und ebenso gut mit einer christlichen Gemeinde im entlegensten Dorf, wo überhaupt nichts mehr funktioniert. Die Kirchen können also ganz viele Menschen erreichen, und das ist fantastisch. Diesen Reichtum müssen wir nutzen, um uns füreinander einzusetzen. 

Sie setzten sich seit Jahren für Frieden ein, doch immer wieder entstehen Konflikte. Resigniert man da nicht irgendwann?

Friedensbemühungen ist harte Sisyphus-Arbeit, und da kann man schon mal müde werden. Aber darum bin ich überzeugt, dass wir uns spirituelle Kraft holen, um in dieser Welt als Christenmenschen leben zu können. Deswegen feiern wir Gottesdienste, das Abendmahl, deshalb singen und beten wir zusammen – um in dieser Welt, in der es so viel Gewalt und Ungerechtigkeit gibt, nicht verrückt zu werden, sondern danach zu fragen: Was können wir dazu beitragen, dass es besser wird? Aber das habe ich erst im Lauf der Jahre gelernt, dass es spirituelle Kraft braucht, um diese Haltung nicht zu verlieren. Und es braucht Gemeinschaft. Keiner kann das allein.