Politik 29. April 2024, von Cornelia Krause

Reden gegen Hass und Antisemitismus

Gesellschaft

Seit gut 20 Jahren sprechen jüdische Jugendliche in Schulklassen über ihren Alltag. Der Krieg in Nahost und vermehrter  Judenhass machen die Besuche brisanter als je zuvor. 

«Religion», «Tora», «Davidstern» –und immer wieder «Krieg» – diese Stichwörter haben die Winterthurer Sekundarschüler am Vormittag auf bunte Zettel an die Tafel geklebt. Zur Vorbereitung einer Begegnung mit jüdischen Jugendlichen. Jetzt hingegen ist die Tafel zugeklappt, die rund 20 Schülerinnen und Schüler sitzen im Kreis mit ihren Gästen, und es geht zuerst einmal um Äusserlichkeiten.
«Vielleicht erstaunt es euch, dass wir hier wie ihr in Jeans und T-Shirt sitzen», sagt Lily (15). Und: «Wir leben modern orthodox, halten uns an die Regeln des Judentums, machen etwa Schabbat, aber kleiden uns wie andere Jugendliche auch.»


Lily ist heute mit ihrer Zwillingsschwester Dana gekommen und mit dem 15-jährigen Alon, der erstmals eine Likrat-Begegnung (s. Box) begleitet. Schon nach den ersten Sätzen wird klar, wie richtig Lily mit ihrer Vermutung lag. Viele Schülerinnen und Schüler haben mit streng orthodoxen Juden gerechnet, Jungen mit Schläfenlocken, Mädchen in langen Röcken.
Doch genau dafür sind Alon, Lily und Dana hier: um ein breites Bild vom Judentum zu vermitteln. Und um Vorurteile oder gar Verschwörungstheorien zu entkräften. «Auf Plattformen wie Tiktok werden viele Falschinformationen verbreitet, da ist es wichtig, gegenzusteuern», begründet Lily später im Gespräch mit «reformiert.» ihr Engagement.

Alle Fragen sind erlaubt

Die drei Jugendlichen beantworten an diesem Montagnachmittag Mitte April Fragen über ihren Alltag und ihre Religion. «Aufeinander zugehen» heisst das hebräische Wort Likrat übersetzt. Ein Motto, das zur Projektwoche «Begegnungen schaffen» passt, an der die Schülerinnen und Schüler aus der Sekundarschule Oberseen teilnehmen. Die Gruppe im Klassenzimmer ist altersgemischt, etliche Kinder haben einen christlichen Hintergrund, andere kommen aus muslimischen Familien. Auch ein Junge aus dem syrischen Aleppo und eine Palästinenserin sind unter ihnen.


Geplant hätten sie die Projektwoche schon vor dem Angriff der Hamas und dem Gazakrieg, sagen die Lehrpersonen Sophia Rombach und Oemür Günalp. «Danach haben wir uns gesagt, jetzt erst recht. Gerade jetzt ist es wichtig, Brücken zu schlagen. Die Schule als neutraler Ort ist perfekt geeignet», sagt Günalp. Auch wenn einzelne muslimische Kinder im Vorfeld Bedenken geäussert hätten, ob sie sich angesichts der politischen Situation auf diese Begegnung einlassen wollten.

Ich würde gern einen Davidstern tragen, aber es ist mir zu heikel.
Dana, 15, Likratina

Keine Spaghetti-Bolognese

Doch kaum hat die Stunde begonnen, wird klar: Berührungsängste gibt es keine, der Alltag der jüdischen Teenager aus Zürich fasziniert die Jugendlichen. «Ist das Judentum eine strenge Religion? Was sind eure Fastentage? Wie haltet ihr den Kontakt mit Freunden, wenn ihr am Schabbat das Handy nicht benützen dürft?» So die Fragen der Schülerinnen und Schüler.


Vor allem der Umgang mit dem Freundeskreis beschäftigt sie. Im Austausch wird deutlich, dass Dana und Lily die ruhigen Freitagabende mit der Familie geniessen. Ausgehen ist für sie erst am Samstag nach Ende des Schabbats ein Thema. «Unvorstellbar für mich», erklärt eine Schülerin. Kollektives Raunen bei einer Frage zum koscheren Essen: Lily findet, dass sie andere am ehesten darum beneidet, Spaghetti Bolognese mit Parmesan essen zu dürfen. Die Hackfleischsauce nämlich verträgt sich gemäss den Koscher-Regeln nicht mit dem Käse.
Um die hebräische Schrift zu zeigen, haben die Jugendlichen ein Gebetsbuch mitgebracht, das sie in die Runde geben. An der Tafel übersetzen sie die Namen der Schülerinnen und Schüler ins Hebräische. «Dagegen ist Deutsch ja noch einfach», wundert sich eine Schülerin.

Statt über Politik wird über Gefühle gesprochen

Krieg und Anfeindungen – nach der Pause sind die heikleren Themen an der Reihe. Der syrische Junge fragt nach dem Gazakrieg, und hier ziehen die drei Gäste klare Grenzen. Über Politik möchten sie nicht reden, «weil die Meinungen darüber vielleicht auseinandergehen». Über ihre Gefühle aber sprechen sie schon. Lily beschreibt, wie sie am 7. Oktober vom Massaker der Hamas erfahren hat. «Es war ein Feiertag, und wir durften unsere Handys nicht benutzen. Als unsere streng religiöse Tante aus Israel uns dennoch anrief, war klar, dass etwas Schlimmes passiert ist.» Dana schildert ihre Angst um Angehörige, die sich bei Bombardierungen in Schutzräume flüchten müssen.


Auch das eigene Sicherheitsgefühl wird angesprochen. Rombach und Günalp haben mit der Gruppe einen Zeitungsartikel über die Messerattacke auf einen orthodoxen Juden Anfang März gelesen. Die Jugendlichen möchten wissen, ob die jüdischen Teenager Angst haben, wenn sie in der Öffentlichkeit unterwegs sind. Alle drei fühlen sich in der Schweiz sicher, zumal man ihnen ihre Religion nicht ansehe. Davidsterne tragen sie nicht – zum Teil aus Sicherheitsbedenken. «Eigentlich würde ich das gerne tun, aber es ist mir zu heikel», sagt Dana.

Respekt und Augenhöhe

Alon hat antisemitische Anfeindungen beim Fussball selbst erlebt. Eine Zeit lang kickte er in einer jüdischen Mannschaft. Bei Turnieren seien die Spieler durchaus mal als «Drecksjuden» beschimpft worden.
Schliesslich entspinnt sich eine Diskussion über Abraham und die gemeinsamen Wurzeln von Judentum, Christentum und Islam. Der Schüler aus Syrien fragt, was die jüdischen Jugendlichen von anderen Religionen halten. «Für mich hat jede Religion ihre Berechtigung und verdient Respekt», sagt Dana.
Der respektvolle Umgang miteinander und das Gespräch auf Augenhöhe sind Punkte, welche die Winterthurer Schüler am Ende der Stunde als positives Feedback geben. Tags darauf dürfen sie noch einmal Stichworte zum Judentum aufschreiben. «Hebräisch», «Pessach» und «Koscher» steht unter anderem auf den bunten Zetteln, die Sophia Rombach fotografisch festhält. «Krieg» findet sich nicht mehr darauf.

Eine Erfolgsgeschichte

Das Dialogprojekt Likrat ist im März mit dem österreichischen Simon-Wiesenthal-Preis ausgezeichnet wor--
den. Lanciert hat es 2002 der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG). Seitdem wurde das Konzept auch ins Ausland exportiert. Hierzulande  ist das Projekt in den letzten Jahren stark gewachsen, derzeit sind lan-desweit etwa 40 Likratinos im Einsatz, die extra geschult werden und 2023 mehr als 170 Veranstaltungen möglich machten. Seit einigen Jahren wer
den Likrat-Begegnungen nicht nur Schulen, sondern auch Unterneh
men und Organisationen angeboten.