Gesellschaft 01. November 2025, von Tilmann Zuber/kirchenbote.ch

Wenn der Sohn plötzlich schwarz-weiss denkt

Prävention

Terroranschläge von Fundamentalisten erschüttern immer wieder. Wie Anzeichen von Radikalisierung bei Jugendlichen zu erkennen sind, zeigte ein Kirchgemeindeabend in Dulliken. 

Es beginnt oft unauffällig. Der Sohn oder die Tochter zieht sich zurück, bricht den Kontakt zu Freunden ab, verbringt immer mehr Zeit im Internet, diskutiert leidenschaftlich über «Ungerechtigkeiten in der Welt». 

Irgendwann fallen Sätze, die Eltern alarmieren: «Die da oben lügen doch alle.» «Man darf ja gar nichts mehr sagen.» Oder: «Ihr seid Ungläubige. Gott wird euch bestrafen.» Viele Eltern halten das zunächst für jugendlichen Trotz, eine Phase, die vorübergeht. Doch manchmal ist es der Beginn eines gefährlichen Weges. 

Von jugendlichem Trotz zur Radikalisierung

In der Kirchgemeinde Dulliken fand ein Workshop statt, der Eltern helfen sollte, Radikalisierung frühzeitig zu erkennen und richtig darauf zu reagieren. «Radikalisierung ist ein Prozess, der sehr unterschiedlich verläuft», erklärt Pascal Gasser von der Fachstelle Brückenbauer/Radikalisierung der Kantonspolizei Solothurn. «Oft wissen Eltern nicht, ob es sich um jugendliche Provokation oder um echte Radikalisierung handelt.» 

Gasser hat bereits zahlreiche Veranstaltungen zu diesem Thema durchgeführt, mit Lehrern, Schulleitungen, Eltern und Oberstufenklassen. Er pflegt enge Kontakte zu islamischen Kulturvereinen, Moscheegemeinden und anderen Religionsgemeinschaften im Kanton Solothurn – ebenso wie zu den Fanclubs des EHC Olten und FC Solothurn. Schulen, Eltern oder Arbeitgeber bitten ihn oft um Rat, meist geht es um Prävention, Beratung oder Intervention. 

Beratung, Hilfe, Anlaufstellen

Die Fachstelle Brückenbauer/Radikalisierung berät telefonisch oder persönlich, vertraulich und kostenlos. Bei Fragen, Anliegen oder Anfragen für Weiterbildungsangebote ist die Fachstelle unter 032 627 98 29 und .ch zu erreichen.
Zur Website der Fachstelle Brückenbauer/Radikalisierung.

Auch die Kantonspolizei Zürich führt Brückenbauer-Workshops für Eltern, Lehrpersonen und weitere Interessierte durch.
Zur Website der Zürcher Kantonspolizei.

Weitere Anlaufstellen finden sich bei gegen-radikalisierung.ch. Die Website richtet sich in erster Linie an Sozialarbeitende der Sozialdienste und an Fachleute, die mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen arbeiten.

Auch in Dulliken betonte Gasser, wie wichtig es sei, auf Veränderungen bei Jugendlichen zu achten. Besonders gefährdet seien 11- bis 17-Jährige. Wenn sich ihr Verhalten, Denken oder Sprechen plötzlich ändere, sollten Eltern und Lehrer aufmerksam werden. Warnsignale könnten sein, dass sich ein Jugendlicher ohne Erklärung zurückzieht, kein Interesse mehr an Hobbys zeigt, den Freundeskreis meidet oder wenig schläft. 

Warnsignale früh erkennen

Manchmal äussern sich die Veränderungen auch im Aussehen oder in der Kleidung. Jugendliche, die radikalisiert sind, neigen dazu, die Welt in Schwarz und Weiss einzuteilen, andere Meinungen nicht mehr zuzulassen und Feindbilder zu entwickeln. 

So beschimpft ein Schüler vielleicht eine Mitschülerin, sie sei keine richtige Muslimin, weil sie kein Kopftuch trägt. Oder er erklärt im Schulprojekt, er wolle in den Libanon reisen, um sich der Hisbollah anzuschliessen. «In solchen Fällen braucht es alle – Eltern, Lehrer, Sozialarbeiter, Polizei –, um den Jugendlichen aus der Radikalisierung zu holen», sagt Gasser. 

Junge Menschen informieren sich fast ausschliesslich über soziale Medien, ohne dass Eltern mitbekommen, was im Kinderzimmer passiert.
Pascal Gasser, Fachstelle Brückenbauer/Radikalisierung der Kantonspolizei Solothurn

Gleichzeitig warnt er vor Pauschalurteilen und islamophoben Feindbildern. «Die meisten Jugendlichen suchen nur die Provokation. Echte Radikalisierung bleibt die Ausnahme.» Und: «Jugendliche, die sich in Moscheevereinen im Kanton Solothurn engagieren, sind nicht radikal.» Diejenigen, die ein extremistisches Denken haben, sind meist nicht in religiöse Netzwerke eingebunden und weisen mangelhafte Islam-Kenntnisse auf. 

Die grösste Gefahr gehe heute von den sozialen Medien aus, erklärt Gasser. Dort verbreiten Extremisten Propaganda, rekrutieren Mitglieder und schüren Feindbilder. Algorithmen und Filterblasen verstärken die Wirkung, indem sie Jugendliche in eine Echokammer ziehen, die kritische Gegenargumente ausblendet. «Im Netz wird es immer schwieriger, Fake-News von Fakten zu unterscheiden», sagt Gasser. 

Soziale Medien als Gefahrenherd

Extremisten nutzen gezielt Falschmeldungen, um Meinungen zu manipulieren und politische, soziale oder wirtschaftliche Ziele zu verfolgen. Besonders perfide sei, dass sie das Medienverhalten der Jugendlichen ausnutzen. «Junge Menschen informieren sich fast ausschliesslich über soziale Medien, ohne dass Eltern mitbekommen, was im Kinderzimmer passiert.» 

Was können Eltern tun, um Radikalisierung zu verhindern? Gassers Ratschläge sind klar: Beobachten Sie, was Ihre Kinder im Internet tun, und bleiben Sie im Gespräch. Vereinbaren Sie Regeln und zeigen Sie Interesse. «Fragen Sie, was Ihren Kindern an bestimmten Inhalten gefällt. Und wenn Ihnen etwas auffällt, vertrauen Sie Ihrem Bauchgefühl und holen Sie sich Unterstützung», rät Gasser.