Die Hände hinter dem Rücken, den Blick der Erde zugewandt, geht Heiner Nidecker voran. Vorbei am Standplatz der Fahrenden führt der Weg zu den renaturierten Auen des Hinterrheins. Bereits, als er noch im Amt war, zog der heute pensionierte Pfarrer die «Gehung» der Sitzung vor. «Der Mensch ist bis in die Fingerspitzen auf der Tastatur sesshaft geworden», sagt er. Dabei sei sein Hunger nach Bewegung grösser denn je.
Tauferinnerung
Eine Blindschleiche räkelt sich auf dem Weg, und Heiner Nidecker erzählt, wie ihn die Welle erfasste, als die Reformierten in den Achtzigerjahren das Pilgern wiederentdeckten. Auslöser war das Programm «Kulturwege des Europarates», das 1987 den Jakobsweg als ersten zertifizierte. Das Pilgern nach Santiago de Compostela im Nordwesten Spaniens ist ein Phänomen der westlichen Christenheit, von den Reformatoren abgelehnt und von den Katholiken über die Jahrhunderte erhalten. «Das Pilgern im Mittelalter geschah aus drei Gründen», erklärt Nidecker. Nämlich wegen eines Gelöbnisses, als Busse für Verfehlungen oder als Sterbevorbereitung. Für die Reformierten jedoch steht heute die Selbsterkenntnis im Vordergrund. So erlebte auch Heiner Nidecker seine erste Wallfahrt nach Santiago als «Reise um die eigene Welt».
Unter der Autobahnbrücke angelangt, deutet er Richtung Westen, wo der Weg hinauf zum einstigen Seenplateau führt. Am Horizont ist die Kirche Sogn Gieri zu erkennen. «Die Ankunft in Finisterra, dem westlichsten Punkt der Iberischen Halbinsel, wo der Jakobsweg endet, vergesse ich nie.» Grenzenlose Müdigkeit legte sich über ihn. Er blickte zurück, und es schien ihm wie die Umkehr von der Dunkelheit ins Licht. «Der Jakobsweg war für mich ein Tauf-Erinnerungsweg.»
Nach dem schweisstreibenden Aufstieg zur Kirche empfängt der Apostel Jakobus die Besucher im Muschelkleid im kühlen Chor. Die Wandmalerei ist einer der zahlreichen Hinweise für die Jakobspilgerei in Graubünden. Auch die romanische Sprache zeugt davon: Il petten san Giachen (Jakobsmuschel) war ein Begriff für Kamm. Die Milchstrasse nennt man in der Surselva «Via son Giachen» (Jakobsweg), weil auch sie von Ost nach West führt. Das Romanische war es, das den Basler einst nach Graubünden lockte. Geblieben ist er auch der bündnerischen Kirchenstrukturen wegen. «Nirgends sonst ist die Christenheit so basisorientiert.» Sozialtheologisch «geimpft» wurde er Anfang der Siebzigerjahre in Berlin, wo er an der Freien Universität studierte. Die Schriften des Befreiungstheologen Ernesto Cardenal und der Dichter-Theologin Dorothee Sölle prägten ihn. Beide waren später in Thusis seine Gäste, wo er 27 Jahre als Pfarrer amtierte und für das Ressort Ökumene, Mission und Entwicklung Veranstaltungen organisierte.
Kirchenschlaf
Die Kirche Sogn Gieri erinnert Nidecker an die Nacht in einer zur Herberge umgebauten Kirche in der spanischen Kleinstadt Sahagun. «Ich fiel in einen Schlaf wie nie zuvor.» Seit damals gab es in seinem Religionsunterricht alljährlich einen «Kirchenschlaf» mit Kerzen und Geschichten. «Zur Ruhe kommen und sich geborgen wissen, darum geht es beim Pilgern.»