Früher war sie noch nervös, wenn sie vor Publikum sprach. Jetzt steht Rose Burri (33) merklich gelassen in dem Scheinwerferlicht des Kinos Cameo in Winterthur und hört zu, wie die Moderatorin das Publikum begrüsst – zur Vorführung von «La Mif», dem preisgekrönten Schweizer Film über Jugendliche und deren Erzieher im Heim.
Jetzt ist Rose Burri an der Reihe. Lächelnd spricht sie ins Mikrofon: «Ich bin die Präsidentin des Netzwerks Careleaver Schweiz. Wir sind alles ehemalige Heim- und Pflegekinder. Gern lade ich Sie dazu ein, mit uns nach dem Film über dieses Thema zu diskutieren.» In «La Mif» wirkte Burri nicht mit, doch der bewegende Film ist für das Careleaver-Netzwerk ein guter Moment, um mit seinem Anliegen an die Öffentlichkeit zu treten: Es will darauf aufmerksam machen, dass junge Menschen wie sie mit dem 18. Geburtstag oder nach Abschluss der Ausbildung von heute auf morgen allein schauen müssen, wo sie wohnen, wie sie zu Geld kommen und welche Versicherungen sie benötigen.
Keine Eltern da zum Anrufen
Wie schwierig diese Phase ist, erzählt Rose Burri dem Publikum nach dem Film: Bis sie 20-jährig war und ihr KV abschloss, wohnte sie in einem Heim mit klaren Regeln und engen Beziehungen. «Sogleich nach dem Abschluss musste ich ausziehen und alles Weitere allein organisieren; das setzte mich unter hohen Druck.»
Wer aus dem Heim austrete, habe nicht die Möglichkeit zurückzukehren, wenn die WG nicht passe oder der Temporärjob vorüber sei und man kein Geld zur Überbrückung habe. Kinder aus «normalen» Familien könnten die Eltern anrufen, einstige Heim- und zahlreiche Pflegekinder aber oft nicht. «Ich brauchte einige Jahre, bis ich ein soziales Umfeld aufbauen konnte.»
Interpellationen in mehreren Kantonen
Den Entscheid, sich öffentlich für Heim- und Pflegekinder starkzumachen, fällte Burri während einer Weiterbildung in Kindes- und Erwachsenenschutzrecht. Im Interview vor dem Film erzählt sie von jenem Moment: «Im Kurs diskutierten Fachleute total an der Realität von Heimkindern vorbei. Ich dachte: Niemand fragt uns nach unseren Erfahrungen. Wir müssen mitreden!»
Als 2021 die Careleaver-Netzwerke der Regionen Basel, Zentralschweiz und Zürich den schweizerischen Care-leaver-Verein gründeten,
stellte sich Rose Burri als Präsidentin zur Verfügung. Seither hat sie in mehreren Kantonen Interpellationen angestossen. Zürich hat jüngst das Kinder- und Jugendheimgesetz angepasst, das nun eine längere finanzielle Unterstützung vorsieht. Auch Careleaver Schweiz hatte sich in der Vernehmlassung geäussert.
Falsches Bild
Burri kämpft nicht nur für strukturelle Hilfe, sondern auch für einen Perspektivenwechsel: «Sage ich, dass ich im Heim aufgewachsen bin, ist die Reaktion oft: Was hast du denn ausgefressen? Niemand fragt zuerst, was mir meine Eltern angetan haben.» Sie ärgert sich über die verbreitete Haltung, dass Eltern stets die beste Obhut bieten: «Viele von uns sind froh, dass wir von jenen weggeholt wurden, die unser Leben zerstört haben.» Damit Careleaver mehr Unterstützung erhielten, sei ein anderer Blick auf sie nötig, «ein liebevoller». Entstigmatisierung ist für Burri Berufsalltag: Als Sozialbegleiterin in einem Selbsthilfezentrum hat sie es häufig mit Leuten zu tun, welche unter den gesellschaftlichen Normen leiden.
Als die letzten Gäste das Kino verlassen haben, lehnt Rose Burri zufrieden an der Bar. «Ich freue mich über das grosse Interesse.» Sie spüre eine zunehmende Sensibilität für das Thema und freue sich über das, was bereits erreicht werden konnte. «Vielleicht werde ich bald das Präsidium an den Nagel hängen und dann einfach mal nur mein Leben geniessen.»