Wenn Kunst das Leben in die Ewigkeit rettet

Literatur

Ivo Knill schreibt und regt zum Schreiben an. Er tanzt vor Glück und Trauer. Und er erinnert an die Verstorbenen, die sein Leben bereichern.

Er tut es morgens vor der Arbeit, im Zug, in der Beiz, abends solange die Augen mitmachen, in Gruppen oder allein: schreiben. «Schreiben ist Bodybuilding für den Sprachmuskel», sagt Ivo Knill. Er ist Literat. Und im Hauptberuf arbeitet er als Lehrer an einer Berufsmaturitätsschule.

Im Gespräch wirkt der 59-Jährige heiter, spricht leise, oft in druckreifen Sätzen. Wenn er schelmisch lächelt, verraten die Augen, dass noch viel mehr Worte, Bilder und Ideen in seinem Kopf herumwirbeln. 

Aktuelle Ausstellung mit Lesungen und Diskussionen im Otto-Bruderer-Haus in Waldstatt AR.

www.ottobrudererhaus.ch

«In der Sprache begegne ich der Welt», sagt der studierte Germanist. «Mit dem Schreiben sehe ich sie neu und gebe dem Erlebten Tiefe, das macht mein Leben reich.» Für Knill ist Schreiben kein einsamer Prozess, der zu einem gedruckten Werk führen muss, das von ein paar Menschen gelesen wird und dann vielleicht vergessen geht.

Er pflegt das Schreiben als eine Form der literarischen Geselligkeit, verbindet Improvisationstanz mit kreativem Schreiben und hat sich befreit vom Druck, dass jeder Satz ein Meisterwerk sein muss. Knill verfasst biografische, literarische und journalistische Texte und war Mitherausgeber des Magazins für Gesellschaft, Sinn und Gender «Ernst». Er sammelt Väter- und Geschwistergeschichten und hat aus seinem Haus in der Burgdorfer Altstadt ein Schreibhaus gemacht.

Das Leben gewinnt durch das, was man dazu denkt und schreibt an Volumen.
Ivo Knill, Schriftsteller

Dort begleitet er Gäste bei ihren Schreibvorhaben. «Wenn die Leute im offenen Schreiben unbekanntes Land entdecken, ist das ein grosses Glück», so Knill. «Dann spüren sie, dass das Leben durch das, was man dazu denkt und schreibt, an Volumen gewinnt.»

Geboren wurde Ivo Knill 1964 als sechstes von sieben Kindern im appenzellischen Herisau. Sein Vater war Zimmermann und Architekt. Seine Mutter, eine Italienerin, hatte vier Schwestern, und der kleine Ivo wuchs in einem «brodelnden Familienkosmos» mit 28 Cousinen und Cousins auf. 

ERNST, das vierteljährlich erscheinende Kulturmagazin verbindet Gesellschafts-, Sinn- und Geschlechterfragen.

www.ernstmagazin.com

Eine Welle von Leben sei das gewesen, üppig, laut und sehr katholisch. «In der Zeit vor Ostern beteten wir frühmorgens schon den Rosenkranz.» In der Passionszeit habe er das Leiden jedes Jahr mitempfunden, um dann den Jubel des Osterfests zu feiern. Das habe ihn geprägt. «Bis heute weiss ich: Wenn es ganz dunkel ist im Leben, wird es irgendwann wieder hell.» 

Hilfreiches Ostererlebnis

Diese Zuversicht brauchte Ivo Knill auch. Als er 24 Jahre alt war, starb einer seiner Brüder, später auch seine Mutter, beide bei Verkehrsunfällen. Und vor sechs Jahren schied sein Bruder Franco aus dem Leben.

Ohne Schwermut komme ich nicht an das heran, was mich lebendig macht.
Ivo Knill, Literat

Alles Todesfälle ohne Abschied. Knill blieb allein mit seiner Trauer und den unbeantworteten Fragen zurück, schrieb viel. «Vielleicht half mir auch das Ostererlebnis der Kindheit, mit dem Unbegreiflichen des Todes umzugehen.»

Immer weiterschreibend versucht Knill seither, das Andenken an die Verstorbenen zu bewahren. In seiner aktuellen Ausstellung über den Umgang mit Nachlässen ist auch eine Fotoserie seines Bruders Franco zu sehen. «In ihren Werken leben die Menschen weiter», sagt er. «Das ist das, was die Kunst zu leisen vermag: das Lebendige eines Menschen über den Tod hinaus retten.»

Ohne Schwermut geht's nicht

Also ist Ivo Knill gar nicht so heiter, wie er auf Anhieb scheint? «Ja und nein», antwortet er. Er sei ein froher und ein trauriger Mensch. Beides gehöre für ihn zusammen. «Ohne Schwermut komme ich nicht an das heran, was mich lebendig macht. Und wenn ich an das herankomme, bin ich froh.» 

Das Schreibhaus in Burgdorf: schreibhaus.blog

Sagt es und lächelt. «Vielleicht ist es ja auch das Leben selbst, das mich beschenkt?» Mit 21 Jahren wurde Knill Vater, seine Frau und er studierten damals noch. Und nun ist aus dem «Windeln wechselnden Taxistudenten» ein zweifacher Grossvater geworden. Einer, der mitten im Leben steht, einem Leben mit viel Volumen.

Ivo Knills Artikel im Magazin des Tagesanzeigers vom 17.2.2023: Meine Frau ist Hausärztin – wie lange hält sie noch durch?

Das Magazin 18/2023 – Beitrag über den Hausarztmangel.