Porträt 26. Dezember 2017, von Marius Schären

Mit Pfeil und Bogen Barrieren überwinden

Karriere

Ihr Weg führte von der Gleichstellungsforschung zu Zielscheiben am Berner Stadtrand. Ihren Job erachtet Christine Scheidegger als Privileg.

Mit beiden Beinen steht Christine Scheidegger fest auf dem Boden, im rechten Winkel zum Ziel. Sie legt den Pfeil auf die Sehne. Aufrecht von Sohle bis Scheitel hebt sie den Bogen. Beim Ziehen an der Sehne hält sie ihn durch den blossen Widerstand der Knochen stabil. Die Hand, die die Sehne hält, stoppt an der Wange. Jetzt leicht weiter spannen – und loslassen. Dem Pfeilflug folgt sie lächelnd und entspannt.

«Meditieren mit Sportgerät», nennt das die mit einem Doktortitel in Politologie und einem olympischen Bogen ausgestattete 39-Jäh­rige. «Das Bogenschiessen ist an sich ja eine sinnfreie Tätigkeit», sagt sie nachdenklich, nachdem sie ins Bo­genschiessen eingeführt hat. Über­haupt ist Nachdenklichkeit der Grund­ton, wenn Scheidegger erzählt. Sorg­fältig formuliert sie, mit kurzen Denkpausen und leiser Stimme. Unerwartet rasch senkt sich jetzt die Dämmerung über die Weide am Rande Berns. Die Kälte kriecht unter die Kleider.

Der ausgeträumte Traum

Der Wechsel zwischen höchster Kon­zentration und völliger Entspannung: Das ist für Christine Scheidegger etwas vom Faszinierends­ten beim Bogenschiessen. Aber bei Wei­tem nicht das Einzige. «Je nachdem was einem gefällt, gibt es ganz verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten, ist etwas anderes stimmig.» Es gebe viele verschiedene Bogenarten und damit verbundene Phi­losophien. Zurzeit passe ihr der olympische Bogen am besten: «Ich mag gerade das bisschen Technik, die es braucht, um mit kleinen Korrekturen sichtbare Fortschritte zu erzielen.»

Mit dem Bogenschiessen hat Christine Scheidegger erst vor sieben Jahren angefangen. Heute ist das Unterrichten des Sports ihr «Schoggijob», wie sie selbst lachend sagt. «Es ist eine tolle Aufgabe, jeden Tag zu erleben, wie Menschen sich weiterentwickeln und ihre Träume umsetzen können.»

Einen grossen Traum konnte die Politologin selbst jedoch nicht realisieren. «Ich hätte gerne mein ganzes Berufsleben weitergeforscht. Aber irgendwann war wie für viele Forschende halt Schluss.» Derzeit seien in der Wissenschaft möglichst junge, formbare und austauschbare Menschen gefragt. «Mein Herzblut und meine Kreativität störten», kritisiert die Geschlechter- und Gleichstellungsfachfrau.

Auf Emotionen reagieren

Und ja, sie sei enttäuscht von diesem System. Als einen Grund nennt sie den Umgang mit Emotionen. «In der akademischen Welt herrscht eine lebensfeindliche und irrationale Abwertung von Gefühlen vor. Entsprechend diskriminieren Entscheidungsträger weiterhin – nach Alter, Geschlecht, Herkunft, Klasse», sagt Christine Scheidegger. Dabei sei der Wert und der Nutzenvon Gefühlen nicht nur für die Lebensqualität in der Wissenschaft augenfällig, sondern auch für den Erkenntnisgewinn, hält die Wissenschaftlerin fest.

Intellektuell gefordert sieht sie sich auch jetzt. Doch seien Fehler beim Bogenschiessen nicht immer erklärbar. «Manchmal bleibt es ein Gefühl. Es wahrzunehmen, ist das A und O, damit die Person sich entwickeln kann.» So befähige ich Menschen, sich zu vertrauen und Ziele zu erreichen. Und: «Eigentlich mache ich dasselbe wie in der Gleichstellungsarbeit: Menschenunterstützen beim Überwinden von Denk­barrieren.»

Christine Scheidegger, 39

Die aus Zofingen stammende Geschlechter- und Gleichstellungsfachfrau hat sich vor zwei Jahren in Bern als Bogentrainerin selbständig gemacht. Zudem arbeitet sie als Spezialistin für Alltagssexismus, testet Dienstleistungen und begleitet eine Vielfalt von Menschen als Mentorin.

Christine Scheidegger beim Unterrichten und beim Bogenschiessen