Recherche 20. Februar 2023, von Constanze Broelemann

Von der Sehnsucht, autonom zu sein

Solidarität

Mit dem internationalen Weltgebetstag rückt jedes Jahr ein ande­res Land in den Fokus kirchlicher Solidarität. Dieses Jahr haben Frauen aus Taiwan die Gebete formuliert.

In Taiwan praktiziert man den Glauben offen im Alltag
Desirée Bergauer-Dippenaar, Pfarrerin in Untervaz, Graubünden

Ya-Ping Wang hat eine Landkarte vor sich und zeigt auf den Küstenstreifen der Insel Taiwan: «Hier leben die meisten Menschen. DasLandesinnere besteht vor allem aus unbewohnbarem Gebirge», erklärt sie. Gut 23,5 Millionen Menschen bevölkern den Inselstaat, der etwas kleiner als die Schweiz ist. Ähnlich der Form einer Süsskartoffel liegt das Eiland im Westpazifik vor dem chinesischen Festland.

Breite Religionslandschaft

Wang lebt seit sieben Jahren in der Schweiz, im Kanton Graubünden. Sie übersetzt Patenttexte und ist mit einem reformierten Pfarrer verheiratet. Da­­mit verbindet sie einiges mit Desirée Bergauer-Dippenaar: Die Toch­ter von christlichen Missionaren kam auch in Taiwan zur Welt, heute ist sie Pfarrerin.Anders als in Europa, wo Reli­gion zunehmend zur Privatsache wer­de, lebe man in Taiwan den Glau­ben offen im Alltag, sagt Bergauer-Dippenaar. «Die Praxis und auch die Gemeinschaft sind wichtig.» Und Wang ergänzt: Das friedliche Nebeneinander der Religionen sei typisch für die Insel. Sie selbst fühlt sich zwar keiner Religion zugehörig, wurde aber in der Schule im Konfuzianismus unterrichtet. Das Christentum macht mit 6,5 Prozent neben Buddhismus, Taoismus und weiteren Religionen lediglich einen kleinen Teil der Religionslandschaft Taiwans aus. Redet man über Taiwan, kommt schnell auch die Politik ins Spiel. Die Insel wird seit den 1980er-Jahren demokratisch regiert und strebt die Unabhängigkeit von der Volksrepublik China an. Diese betrachtet Taiwan als abtrünnige Provinz. Und so ist die völkerrechtliche Stellung Taiwans bis heute umstritten.

Sich Gehör verschaffen

«Taiwan sucht immer wieder Gehör in der internationalen Szene, es will als autonomes und erfolgreiches Land wahrgenommen werden», sagt Bergauer-Dippenaar. Daher finde sie das Motto des diesjährigen Weltgebetstages passend: «Ich habe von eurem Glauben gehört». Im Alltag merke man von den po­litischen Spannungen nicht viel, sagt Wang. Vor acht Monaten weilte sie zu Besuch in ihrer Heimat. Gemäss Internationalem Währungsfonds sei das Bruttoinlandsprodukt von Taiwan knapp höher als jenes der Schweiz.

Wirtschaft als Schutzschild

Ökonomisch befindet sich Taiwan somit auf Erfolgskurs. Dies zu gutem Teil wegen des Chipherstellers TSMC: Mit einem Marktanteil von etwas mehr als 56 Prozent führt der Halbleiterhersteller bei der Herstellung von Computerchips. «Die florierende Wirtschaft ist auch eine Art von  Schutzschild für die Insel, die immer mal wieder unter politischem Druck steht», sagt Wang.«Da eine starke Wirtschaft für die Insel so wichtig ist, ist auch die Leistungsbereitschaft der Taiwanerinnen und Taiwaner hoch», sagt Bergauer-Dippenaar. «Die Prü­fungs­­abschlüsse aus der Schule werden sogar auf der Strasse mit Namen publiziert», erinnert sie sich. Insgesamt elf Jahre lebte sie in der Stadt Taipeh. Beide Elternteile arbeiteten viel, um die Ausbildung der Kinder zu finanzieren.

Was die Menschen brauchen

von dem grossen Leistungsdruck über­fordert sind und mit Gewalt an den Kindern reagieren», berichtet Bergauer-Dippenaar. Deshalb seien Solidaritätsprojekte des Weltgebets­tages begrüssenswert. Wie etwa der «Garden of Sunflowers», der Kinder unterstützt, die von häuslicher Gewalt betroffen sind.In der Tradition des Weltgebetstages sieht die Pfarrerin die Chance, echte Solidarität zu pflegen: Denn die Menschen vor Ort formulierten in den Gebeten ihre eigenen Bedürfnisse, «und nicht wir von aussen be­ten für etwas, wovon wir glauben, dass es für die Leute in Taiwan wich­tig sei»

Weltweite Bewegung

Dieses Jahr haben Frauen aus Taiwan die ökumenische Gottesdienstfeier am ersten Freitag im März vorbereitet. Der ökumenische Weltgebetstag (WGT) versteht sich als weltweite Solidaritätsbewegung von Frauen aus verschiedenen Ländern, die miteinander beten und solidarisch handeln. Der WGT Schweiz unterstützt in diesem Jahr mit 45 000 Franken sieben Pro­jekte in Taiwan. Diese wollen Frauen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Wirtschaft, Politik und Kultur stärken.