Von der Unschärfe hin zur Hoffnung

Wissenschaft

100 Jahre Quantenmechanik. Für Theologen wie Matthias Wüthrich eröffnete diese die Möglichkeit, Gottes Wirken ganz neu zu denken.

«Gott würfelt nicht» – mit diesem Satz wandte sich Albert Einstein gegen die gängige Deutung der neuen Quantenphysik, die er selbst mit angestossen hatte. Er konnte nicht hinnehmen, dass im Innersten der Materie Zufall und Unbestimmtheit regieren sollten. Doch genau das war die Provokation der Quantenmechanik: Seit hundert Jahren zeigt sie, dass die Welt nicht bis ins letzte Detail berechenbar ist. Teilchen verhalten sich zugleich wie Wellen, Zustände bleiben unbestimmt, solange niemand hinschaut. Naturgesetze erscheinen nicht mehr als starres Uhrwerk, sondern als Spielräume von Wahrscheinlichkeiten. 

Für die Theologie ist diese Entdeckung mehr als eine physikalische Kuriosität. Denn sie stellt das alte, mechanistische Weltbild infrage, in dem Gottes Handeln kaum Platz hatte. «Im Gefolge Newtons dominierte lange die Vorstellung einer kausal-deterministischen Welt», erklärt Theologieprofessor Matthias Wüthrich, der an der Universität Zürich eine Tagung zum 100-jährigen Jubiläum der Quantenmechanik organisiert hat. «Die Theologie stellte sich die Frage, wenn alles durch Naturgesetze festgelegt ist: Wo wirkt Gott überhaupt noch?» 

Gott als Lückenbüsser 

Unbestimmtheit und Offenheit im Allerkleinsten lassen sich auch theologisch deuten: Vielleicht ist Gottes Wirken nicht das spektakuläre Eingreifen gegen die Naturgesetze, sondern das feine Mitgestalten innerhalb der Prozesse der Welt. Von 1988 bis 2003 wurde ein umfangreiches  Forschungsprojekt namens «Divine Action Project» durchgeführt. Einige vertraten dabei die These, dass Gott auf der Ebene von Quantenereignissen wirksam sein könnte, ohne Naturgesetze ausser Kraft zu setzen – gewissermassen «bottom up». 

Doch dieser Ansatz blieb nicht ohne Kritik. Wird Gott damit nicht zum Lückenbüsser, der nur noch in mikroskopischen Zufällen Platz findet? «Das war tatsächlich ein Vorwurf», sagt Wüthrich. «Wenn man Gottes Wirken zu sehr auf Quantenereignisse beschränkt, verliert man das Geheimnis aus dem Blick. Gott lässt sich nicht so einfach technisch und naiv-realistisch in Naturprozessen verorten.» 

Heute gehe es weniger um Modelle, die Gottes Einfluss lokalisieren wollen, sondern um den Dialog selbst: Wie können Theologie und Naturwissenschaften voneinander lernen, ohne einander zu vereinnahmen? Dabei ist wichtig, Extrempositionen zu vermeiden. Der eine Pol wäre ein Gott, der die Welt wie ein Uhrmacher in Gang setzt und sich dann zurückzieht. Der andere ein Gott, der ständig durch Wunder die Naturgesetze ausser Kraft setzt. 

Zwischen diesen Extremen sucht die Theologie nach einem Weg, Gottes Wirken inmitten der Welt zu denken: als schöpferische Präsenz, die Freiheit schenkt, als ein Mitgehen, das manchmal stark wirkt, manchmal sich zurücknimmt – vielleicht sogar improvisiert. Die Vorstellung der Improvisation habe auch biblische Bezüge, so Wüthrich: «Gott reagiert, antwortet und eröffnet immer neue Spielräume.»

Auf jeden Fall sprengt die Quantenmechanik das Bild einer festgelegten Welt. Erinnert daran, dass Offenheit und Überraschung zur Grundstruktur des Lebens gehören. Für die Theologie bedeutet das auch, die Theodizee-Frage – warum Gott Leid und Krieg zulässt – nicht mit vorschnellen Antworten zuzudecken. «Die Theologie darf dieses Geheimnis nicht lösen wollen», sagt Wüthrich. «Sie hat die Aufgabe, es zu benennen und zu schützen.»

Neue Freiheitsgrade 

Genau darin liegt für den Theologen auch eine Perspektive der Hoffnung. Denn eine Welt, die im Inners­ten nicht starr und abgeschlossen ist, eröffnet Freiheitsgrade – für Natur, für Menschen, für die Zukunft. «Das Vertrauen, dass Möglichkeiten offenbleiben und uns neu zugespielt werden, trägt schliesslich auch den Glauben», sagt Wüthrich. 

Wie sehr die grundlegenden Fragen nach den Rätseln der Natur – nach Zufall und Unschärfe ebenso wie nach Gottes Wirken und Sinn – die Menschen beschäftigen, zeigte sich an der vom Institut für Hermeneutik und Religionsphilosophie der Uni Zürich organisierten Tagung am 5. September: Der Hörsaal war bis auf den letzten Platz gefüllt, die Aufmerksamkeit konzentriert, das Interesse gross. Die Quantentheorie stosse damit nicht nur bei Physikern und Theologen auf Neugier und Faszination, sondern auch weit über Fachkreise hinaus, sagt Wüthrich.