Gesellschaft 08. November 2024, von Jonas Nölle

Den Zauber der Stille wahrnehmen

Literatur

In seinem Aufsatz beschreibt der deutsche Student Jonas Nölle Eindrücke seiner Reise nach Davos, dem Schauplatz des Romans «Der Zauberberg», den er als Stipendiat besuchte. 

Tiefblau zieht hier der Himmel über die lanzenartigen Wipfel der Fichten, während die Ortschaft im Tal grell in der Hitze schimmert und das Geläut der Kühe zu mir herandringt. Ich bin auf dem Weg nach Davos, wo ich mehr über Thomas Manns Roman «Der Zauberberg» erfahren möchte. Vor 100 Jahren hat ihn der Literaturnobelpreisträger fertiggestellt. Davos, Schauplatz des Romans, feiert dieses Jubiläum mit mehreren Veranstaltungen.

Wertvolle Augenblicke
Wie ich reist auch Hans Castorp, der Held des Buches, nach Davos. Er zur Kur in das Sanatorium Schatzalp, geplant auf drei Wochen, bleiben wird er sieben Jahre. Ich als Student der Philosophie und Geschichte, der sich bei der Stiftung für Studienreisen (ZIS) für ein Reisestipendium beworben hat. Beim Reisen und also beim Warten habe ich oft das Gefühl, dass die Stunden nicht vergehen oder rückblickend nicht einmal mehr existieren. Wie oft werde ich mich an einen bestimmten Augenblick aus meiner Jugend erinnern? Augenblicke, ohne die ich mir mein Leben nicht mehr vorstellen kann? Sie sind abzählbar und nur wenige.

Entfernte Heimat
Aber hier in den Bergen habe ich das Gefühl, dass das alles grenzenlos ist. Vielleicht, wie Hans Castorp, der im Sanatorium das Heute nicht vom Gestern zu unterscheiden versteht und mit einem Male, während er selbst schon lange in diesem wundersamen Kreislauf noch zu verweilen wusste, an die Front gedrängt wird. Es ist Krieg in Europa. Als ich vor ein paar Tagen in Hamburg spätabends in den Zug gestiegen bin, lagen in den Bahnwaggons schlafende Menschen über ihre kleinen Klapptische gebeugt. Es war eine lange und zähe Fahrt, die nicht enden zu wollen schien, und dann, doch plötzlich, war ich überrascht, Berge zu sehen. Ich hatte das Gefühl, Heimat und Ordnung weit zurückgelassen zu haben. Ich nahm fast nichts mit, nur Zelt, Isomatte und Schlafsack. Die Luft war frisch, als ich in Davos ankam, sonst nichts. Der einzige Baumschmuck der Gegend war Nadelholz. Manchmal, bei der Rast während meiner Wanderung durch das Landwassertal, kam es mir eng vor, und ich glaubte, es sei das Wenigste, dass man tapfer umhersteigt im Gebirge, während man im Schatten eines Baumes auf einer Bank ruht und nichts tut. Ich gehöre nämlich zu der Generation, die nun keine Langeweile mehr kennt. Es gibt immer einen Sog, immer läuft das Leben so neben einem ab, das weiss man schon früh in Hamburg.

Sinne schärfen
Ich mag aber das Stillsein, die Stille. Ich mochte schon immer lange Autofahrten an die Nordsee und auch an Weihnachten in die Kirche zu gehen. Wenn man nichts anderes tun konnte, als einfach still zu sein. Die Rituale dort, der Geruch, die Festlichkeit und auch die Demut. Das habe ich hier wieder verstanden. Wenn man also so dasitzt, dann wird man plötzlich empfänglich für die Schatten und die Vögel am Himmel. Es ist eine Landschaft, die selbst Thomas Mann, den Nobelpreisträger, der vom Papst in Empfang genommen wurde, tief beeindruckt hat. Und jetzt sitze ich hier selbst und schaue ins Tal und zu den Menschen, und es scheint mir, als ob ich hier die Dinge finden könnte, die in Deutschland irgendwie verloren gegangen sind. 

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