Gesellschaft 23. Mai 2024, von Carmen Schirm-Gasser/Kirchenbote

Gräber erzählen Geschichten

Geschichte

Die Waldfriedhofsführungen in Schaffhausen mit Markus Sieber widmen sich jedes Mal einem anderen Thema und bringen Erstaunliches zutage. Kein Wunder, dass sie so gut besucht sind.

Ein sonniger Samstagnachmittag im Mai. Eine Gruppe von etwa 30 Menschen hat sich eingefunden, um an der beliebten Waldfriedhofsführung von Markus Sieber teilzunehmen. Die Stimmung ist gelöst, man kennt sich noch nicht. Später dann werden sich die Teilnehmer austauschen, immer wieder eigene Erfahrungen einwerfen. Ein Ausflug, der Menschen zusammenbringt. Und viel Neues an Wissen liefert, während man durch einen beinahe verwunschenen Wald schreitet und die Seele baumeln lässt.

Die Freys

Diesmal geht es um das Thema Verwandtschaft. Dafür untersuchte Markus Sieber alle Gräber mit dem Namen Frey. Heraus kamen spannende Lebensgeschichten, erschütternde Familienschicksale, allesamt verbunden mit der historischen und wirtschaftlichen Entwicklung Schaffhausens. 

Für all diese Geschichten verbrachte Markus Sieber viel Zeit in Archiven. Für jede Führung nimmt er sich ein anderes Thema vor, für das er dann Wochen im Voraus mit seinen Forschungen beginnt. Einmal nimmt er sich Architektur vor, ein anderes Mal Medizin.  

Süffige Details

Markus Sieber nimmt die Menschen mit auf eine wilde Fahrt durch die Geschichte Schaffhausens, seiner Unternehmen und Menschen. Es geht vorbei an knorrigen Bäumen, blühendem Rhododendron und schneeweissen Maiglöckchenfeldern.

Beim Grab von Oskar Frey bleibt man stehen. «Oskar Frey war schweizweit bekannt», hebt Markus Sieber an, «war er doch Vater der geistigen Landesverteidigung». Die Zuschauer nicken. «Sein Spruch aus dem Zweiten Weltkrieg ist bis heute bekannt: ‹Wir halten fest mit hartem Grind, auch dann, wenn wir umzingelt sind.›» 

Er erzählt noch mehr süffige Details aus dem Leben des Volkshelden, dann geht es weiter, zu einem anderen Frey, Theodor Vogelsanger-Frey. Dieser war Arzt und Spinnenforscher, hat drei Bücher über Spinnen verfasst. Eine Spinne, die er in Schaffhausen entdeckt hatte, wurde nach ihm benannt: Robertus ungulatus Vogelsanger.  

Der Tüftler

Unterdessen jagen sich ein paar Eichhörnchen in den Bäumen. Für einen Moment haben sie alle Aufmerksamkeit der Zuhörer gepachtet. Markus Sieber sieht selbst gebannt zu den flinken Tierchen hoch. Dann holt er aus zu einem Exkurs über die Wirtschaftsgeschichte Schaffhausens. 

Er erzählt von Carl Maier, dem Gründer der Firma CMC, die Schaltanlagen produzierte und später 1992 von ABB übernommen wurde. «Carl Maier war ein interessanter Mensch, ein Tüftler. Er hat zu Beginn der Elektrizität Apparate konstruiert, was damals niemand konnte.  

Sich mit Ziegeleien verspekuliert

Auch tragische Geschichten kommen an diesem Tag ans Licht. Wie jene von Ulrich Zündel, er hatte eine Berta Frey geheiratet, deshalb kommt er in der Frey-Dynastie vor. Die Bank Zündel war das erste Bankhaus von Schaffhausen, am Herrenacker. Irgendwann hatte man damit angefangen, Industrien aufzukaufen, in diesem Fall die Ziegeleien Hofen und Thayngen. 

Als die Industriebetriebe während des Ersten Weltkriegs in die Krise schlitterten, geriet auch die Bank in Turbulenzen. Ulrich Zündel musste seine Bank liquidieren, die es seit 100 Jahren gab. Auch seine Backsteinvilla an der Steigstrasse musste er verkaufen und zog nach Zürich.   

Integration durch Kompromisse

Weiter geht es, vorbei an muslimischen Gräbern. Für Markus Sieber ein wunderbares Beispiel der Integration, wie er sagt. «Integration heisst, Kompromisse zu machen. Wir machen einen Schritt, die anderen machen auch einen Schritt.» 

Die Friedhofsverwaltung des staatlichen Friedhofs erlaubte den Muslimen, dass ihre Gräber gegen Mekka ausgerichtet werden dürfen. Dafür mussten die Begrenzungen weg, die eigentlich typisch für muslimische Gräber sind, aber nicht in mit der Friedhofsordnung kompatibel ist.  

Das Leben der Toten

Markus Sieber (70) macht die Führungen seit fünf Jahren. Diese sind stets gut besucht, ohne dass er gross Werbung dafür machen würde. Zuvor war er Pfarrer in Schaffhausen, ist mit Trauerfamilien viele Male diese Wege durch den Wald gelaufen. «Hier ist eine grosse Gemeinschaft. Das ist einfach ein schöner und guter Ort für die letzte Ruhe, es ist auch ein tröstlicher Ort, mit all diesen Vögeln und Bäumen. Wir werden irgendwann dazu gehören. Es ist eine Art, sich damit vertraut zu machen.» 

Nimmt er mit seinen Führungen den Menschen die Angst vor dem Tod? Markus Sieber überlegt. «Ich lasse die Menschen nicht tot sein. Hier im Friedhof leben alle für mich.»