Als Tandem-Pilot muss er für zwei sehen

Freiwillige

Martin Bichsel fährt Tandem mit Menschen, die wenig oder nichts sehen. Die Verantwortung auf den Touren ist gross. Die Freude auch. 

«Drei, zwei, eins, los!» Mit diesem Kommando starten Martin Bichsel und Roger Dietler auf ihrem Tandem in den Sommerabend. Die erste Etappe der Velotour hat es in sich: Sie führt während des Stossverkehrs durchs Zentrum von Bern. Andere Velos, Autos, Busse, Trams, Fussgänger müssen im Blick behalten werden. Auf dem Tandem kann das nur Pilot Martin machen, denn Co-Pilot Roger sieht fast nichts mehr und muss dem Mann vor sich buchstäblich blind vertrauen. 

Martin Bichsel unternimmt seit sieben Jahren mit blinden und sehbehinderten Menschen Radtouren. Als einer von über 50 freiwilligen Piloten im Tandem-Verein Bern, fast alle sind Männer. 

Begeisterter Velofahrer 

«Ich fahre selbst gern und sehr viel Velo. Und ich wollte mich für andere Menschen einsetzen. Also hat das gepasst», erzählt der 51-Jährige, der in seinem Berufsleben auch schon als Velokurier im Einsatz war. Aktuell arbeitet Martin Bichsel als Betreuer im Entlastungsdienst und Fotograf. Auch in seinen Ferien ist er häufig auf zwei Rädern unterwegs. Seine längste Reise führte ihn so in den Iran. 

In der Stadt beschränken wir uns auf Kommandos. Da muss man den Kopf bei der Sache haben.
Martin Bichsel, Pilot

«Rechts anzeigen», ordnet Martin Bichsel an, und Roger Dietler gibt beim Verlassen des Kreisels das entsprechende Handzeichen. Das Tandem Bichsel/Dietler kommt im Vorort Köniz an. So wie zwei weitere Teams, die heute auf derselben Route unterwegs sind.

Natürlich gebe es Paare, die besser als andere harmonierten, sagt Martin Bichsel. Von der Fitness her oder weil es einfach menschlich besser passe. Aber grundsätzlich sollen alle mit allen fahren können. «Bahnübergang», ruft er nach hinten. Nach der holprigen Überfahrt liegen vor der Gruppe nur schmale Strässchen ohne viel Verkehr. Sie führen durch Felder und Weiler hinauf ins hügelige Umland. 

Auf allen drei Tandems beginnt man zu plaudern. «In der Stadt beschränken wir uns auf Kommandos», sagt Bichsel. «Da muss man den Kopf bei der Sache haben.» Die Verantwortung ist gross, die ein Pilot für seinen Mitfahrenden hat. Deshalb fuhr er übungshalber zuerst mit einem sehenden Partner. Und sass auch selbst schon mit einer Augenbinde hinten.

Hören und riechen

«Sie sind am Heuen», sagt Roger Dietler, als das Tandem sich einem Feld nähert. Als er Anfang 20 war, wurde sein Augenlicht wegen einer Netzhauterkrankung immer schwächer. «Dafür wurden Geruchs- und Gehörsinn wichtiger.» Als junger Mann fuhr er Auto, einen schweren Töff und Velo. Einen kleinen Rest Sehvermögen hat der 63-Jährige noch. «Aber zum Selber-Velofahren würde das niemals reichen.» 

Ihm bedeuten die wöchentlichen Tandemfahrten viel. «Weil ich meinen Körper trainieren und an seine Grenzen bringen kann. Und auch wegen der tollen Kameradschaft im Verein.» 

Beschleunigen oder beim Runterfahren in die Kurve liegen, das mag ich.
Roger Dietler, Co-Pilot

Jetzt ist es richtig steil. Bichsel/Dietler schrauben sich mit flotten 20 Stundenkilometern den Berg hinauf. Martin lacht und sagt: «Roger! Du machst ja die ganze Arbeit. Du bist wie ein Motörchen.» Auf dem höchsten Punkt machen die drei Teams eine kurze Pause. Roger Dietler hat ein Körbchen mit Kirschen mitgebracht, die er verteilt. 

Am Velofahren gefalle ihm auch das Tempo, sagt er. «Beschleunigen oder beim Runterfahren in die Kurve liegen, das mag ich.» Bichsel fühlt sich auf dem Velo mit der Welt verbunden. «Man ist in der Natur, spürt die Witterung und kommt rasch in Kontakt mit Menschen.» Wenn er allein unterwegs sei, müsse er sich weniger konzentrieren, sagt er. Im Tandem-Verein geniesse er dafür die Erlebnisse. 

An diesem Abend wird dies ein Überraschungsznacht sein. Doch das wissen die beiden Tandempartner noch nicht, als sie sich wieder in die Sättel schwingen. «Drei, zwei, eins, los!»