Das Leben ist eine Jam-Session

Zusammenleben

Was ein Gebet des heiligen Franziskus mit Jazz zu tun hat. Und was sich aus dem gemeinsamen Musizieren und dem Improvisieren für den Alltag lernen lässt.

«Eins, zwei – eins, zwei, drei, vier!» Es hätte gut anfangen können mit dem klaren und deutlich zu hörenden Einzählen des Bassisten. Doch dann rumpelte die zusammengewürfelte Jazz-Combo los wie ein halb entgleister Zug. Alle spielten viel zu laut, mit ihren Soli versuchte jede und jeder, die anderen zu übertreffen, wurstelte sich über ungelenke Phrasen zum höchstmöglichen Ton in der höchstmöglichen Lautstärke hoch, um dann abrupt zu enden, bevor das nächste Instrument ziemlich unvorbereitet übernahm.

Ein misslungener Führungsversuch

Der Bassist versuchte, mit ausgestrecktem Arm auf jemanden zeigend und rufend, die Reihenfolge der Soli zu bestimmen. Derweil hatte sich die Bläsersektion aber schon mit Blicken verständigt, und irgendwer anders als vom Bassisten gewünscht setzte zum nächsten Solo an. Und dann kam der Schluss: Wieder zeigte der Bassist mit mächtigen Gesten an, auf welchen Schlag das Stück seiner Meinung nach zu enden habe. Es misslang – der sprichwörtliche Zug krachte neben dem Tunneleingang in die Wand. Bumm!

Es klingt überzeichnet, aber ziemlich genau so startete einer der Amateur-Band-Workshops, an denen ich während der Langnau Jazz Nights vor ein paar Wochen als Sängerin teilnahm. Mit vermutlich sehr ratlosem Gesichtsausdruck muss ich dagesessen und dem Treiben zugeschaut haben. Mich hatte man nicht gefragt, ob ich das Stück kenne. Somit konnte ich nicht mitspielen und eingreifen – und ich hätte auch nicht gewusst, wie die Sache noch zu retten gewesen wäre. Doch die Verantwortung lag zum Glück auch nicht bei mir.

So funktioniert es nicht

Während die anderen spielten, hatte unser Dozent den Raum betreten. Er lehnte sich an den Türrahmen und beobachtete, was die Band da bot. Als das Stück aufgehört hatte, klatschte er höflich und sagte zum Bassisten: «Also du bist wohl der Dirigent hier, oder?» Dessen kleinlaute Verneinung verriet, dass ihm sehr wohl klar war, dass das nicht seine Rolle sein sollte. Doch wie schafft es eine Gruppe von Leuten, die noch nie zusammen musiziert haben, ad hoc ein Stück wohlklingend zu spielen, ohne dass eine Person die Führung übernimmt?

Genau das sollten wir während der ganzen Woche lernen und üben. Und für mich war es ein echter Augenöffner auch für das alltägliche Leben. Denn die Situation der Jam Session lässt sich sehr gut auf das zwischenmenschliche Agieren übertragen: Müssen in der Jam Session unterschiedliche Menschen mit ihren verschiedenen Instrumenten ihren Platz in der Band finden, die angemessene Lautstärke und die richtigen Töne treffen, so ist es im restlichen Leben ganz ähnlich. Auch hier muss jedes Individuum mit seinen persönlichen Eigenschaften und Bedürfnissen seinen Platz in der Gesellschaft, der Familie, einer Tischrunde, einem Team finden, damit eine friedliche Gemeinschaft entsteht.

Einander zu dienen, ist der Schlüssel

Wie das geht, wurde uns Teilnehmenden des Jazz-Workshops in aller Direktheit bereits in der ersten Lektion gesagt. «You are the answer!», sagte der amerikanische Schlagzeuger Kendrick Scott zur versammelten Menge in seiner Theorieklasse. Es komme auf die eigene Haltung an, und seine bringe das bekannte Gebet des Heiligen Franziskus auf den Punkt: «Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens». Er rezitierte es auswendig und betonte folgende Stelle: «Lass mich trachten, nicht, dass ich verstanden werde, sondern dass ich verstehe; nicht, dass ich geliebt werde, sondern dass ich liebe. Denn wer sich hingibt, der empfängt.» Vor jedem Konzert bitte er mit diesem Gebet darum, mit der darin formulierten Haltung spielen zu können. 

Es geht also beim gemeinsamen Musizieren darum, das Ego zurückzunehmen, einander zuzuhören und zu dienen – so zu spielen, dass die anderen ihr Bestes zeigen können. Und wenn das alle machen, wenn sich alle für alle hingeben, wird auch jede und jeder einzelne von den anderen getragen.

Auf einmal war das Solo keine persönliche Bewährungsprobe mehr, sondern ein Moment, in dem ich ein Stück für alle um meine Ideen, Töne und Melodien bereicherte.

Ich fand es sehr eindrücklich, welche Wirkung diese Haltung beim gemeinsamen Spiel entfaltete. Auf einmal war das Solo keine persönliche Bewährungsprobe mehr, sondern ein Moment, in dem ich ein Stück für alle um meine Ideen, Töne und Melodien bereicherte. Auf einmal waren die anderen Bandmitglieder keine Quasi-Konkurrenten mehr, die dauernd irgendwas falsch machten und meinen Auftritt ruinierten, sondern Mitmusizierende, die sich nach bestem Wissen und Gewissen bemühten, ein Stück gemeinsam zum Klingen zu bringen. Und die mir auch halfen, wenn ich bei meinem Improvisations-Solo den Faden verlor. Darauf wies mich ein anderer Dozent hin: «Wenn du verloren bist, schau hoch zu den anderen. Sie geben dir Hinweise. Verschliess dich nicht.» 

In Kontakt bleiben durch stetes Zuhören

Eine weitere Anweisung, die mich inspirierte war diejenige, einander aktiv zuzuhören – zu jeder Zeit. Wer solierte, sollte sich nicht in der eigenen Darbietung verlieren, sondern gleichzeitig immer noch auf die Band hören, die ihn oder sie begleitete. Und wer begleitete, sollte nicht gelangweilt seine oder ihre unspektakulären Akkorde und Töne abliefern, sondern dem Solo folgen. Das ist zwar genauso schwierig und anstrengend, wie es klingt, aber wenn ich mich bemühte, diesem Rat zu folgen, sang ich viel bessere Soli. Denn ich blieb in Kontakt mit den anderen Musizierenden, und was ich sang, passte folglich besser zu dem, was sie spielten.

Seit der Workshop-Woche gab es immer wieder Momente, in denen mich das dort Gelernte antrieb, mich anders zu verhalten, als ich es gewohnt bin. Und zwar nicht nur beim Musizieren. Einander richtig zuzuhören, half mir in Gesprächen. Einander Raum zu geben, im überfüllten Bus. Die anderen selbstbewusst um Hilfe zu bitten, in Momenten der Hilflosigkeit. Und die Vorstellung, dass alle das Beste wollen, gab mir Vertrauen in ihre selbstlose Zuwendung.