In Ihrem Buch «Ferienmüde – als das Reisen nicht mehr geholfen hat» beschreiben Sie Ferien als eine der letzten grossen sozialen Utopien. Was meinen Sie damit?
Valentin Groebner: Bis in die 1920er-Jahre, also bis nach dem Ersten Weltkrieg, ist in Deutschland, Österreich und in der Schweiz die überwiegende Mehrheit der Menschen nicht in den Urlaub gefahren. Sie hatten das Geld dafür nicht. Ferien machen war das Privileg der wohlhabendsten 10 oder 20 Prozent. Es gab keinen staatlichen Jahresurlaub. Überhaupt sind die meisten Leute nicht zum Vergnügen verreist. Das heisst, Urlaub machen zu können, markierte von vornherein einen sozialen Statusunterschied. Bis heute steckt das als Utopie im Konzept Ferien drin: zu den besseren Leuten zu gehören, die sich das leisten können.
Seit wann gibt es denn Ferien?
Das gesetzlich festgelegte Recht auf Ferien ist ein Stück politische Geschichte. Als Reaktion auf die faschistische Propaganda vom «Urlaub für alle» in Italien und Nazi-Deutschland führte die linke Volksfrontregierung in Frankreich 1936 den gesetzlichen Mindesturlaub ein. Der Urlaub in seiner heutigen Form ist ein Produkt der Industrialisierung. Kein Mensch ist vor dem 19. Jahrhundert freiwillig an den Strand oder in die Berge gegangen. Erst als die Fabrik und das Büro der normale Aufenthaltsort wurden, wollten die Leute ins Hochgebirge oder ans Meer, um sich zu erholen.
Sie schreiben, wenn wir in den Urlaub fahren, verwandeln wir uns in bessere Leute. Was heisst das?
Urlaub ist mit Arbeit extrem eng verbunden. Wenn wir Urlaub machen, sind wir Oberschichten auf Zeit, weil wir bedient werden – für uns wird gearbeitet. Urlaub fusst auf einer riesigen Dienstleistungsmaschine, die auf schlecht bezahlter Arbeit beruht. Das gilt für Mallorca genauso wie für Graubünden. Wir begeben uns in Situationen, die das Gegenteil unseres Arbeitsalltags sind. Wir sind im Grünen, in der Natur, am Meer, in den Bergen.
Wir glauben, dass wir durch den Urlaub mehr wir selbst werden: eine weitere These von Ihnen.
Ja, das ist Teil der Fiktion. Jeder Reisekatalog bedient diese Art von Vervollständigungsfantasien. Der Tourismus ist eine Konsummaschine, die darauf beruht, dass die Enttäuschungen eingepreist sind. Wenn es dich nicht erfüllt hat, war es deine eigene falsche Wahl. Dann musst du nächstes Jahr eben noch mehr Geld für deine Ferien ausgeben.
Sie sprechen beim Ferienmachen von einer fiktionalen Welt, in die wir uns begeben. Warum?
Der Tourismus ist eine künstliche Welt aus vorproduzierten Bildern und Rollen, Drehbüchern und Handlungsanweisungen. Man ist Konsument standardisierter und vorproduzierter Dienstleistungen, die das «Ursprüngliche» und «Authentische» simulieren. Die Idee, dass man durch Urlaub zum «Eigenen» zurückfindet, ist eine kollektive soziale Fiktion. Installiert wurde sie in der Mitte des 20. Jahrhunderts, als Ferien zur Selbstdarstellung wurden.
Aber wir erholen uns doch schon im Urlaub, oder nicht?
Kommt darauf an, wie streng das Programm ist, das man sich in den Ferien auferlegt. Den eigenen Körper wieder fit machen, die eigene Beziehung reparieren, endlich all die Bücher lesen, die man lesen möchte, neue Kulturen kennenlernen: Das kann ganz schön anstrengend werden. Denn das ist fest mit dem Konzept Urlaub verbunden.
Sie schreiben, die modernen Menschen suchen Auszeit, Selbstfindung und Wiedergutmachung. Was bedeutet das genau?
Das hat eine religiöse Vorgeschichte. Für Selbstfindung und Wiedergutmachung gingen die Leute ab dem 13. Jahrhundert auf Wallfahrt. Das Konzept der temporären Entlassung aus den Zwängen des Alltags ist also relativ alt. Tourismus ist das säkularisierte und kommerzialisierte Fortsetzungsmodell davon.
Können Sie etwas zum Verhältnis von Tourismus und der Entwicklung des Klimas sagen?
Seit die Weltorganisation für Tourismus (UNWTO) 1974 gegründet wurde, hat sich die Anzahl aller touristischen Reisen auf der Welt verdreissigfacht. Bis 2030 wird sie noch einmal um ein Viertel steigen. Der Leiter der Abteilung für nachhaltige Entwicklung bei der UNWTO hat prognostiziert, dass bis 2040 ein Viertel aller vom Menschen verursachten CO2-Emissionen durch den Tourismus erzeugt werden.
Was bedeutet das für den Tourismus hierzulande?
Mehr Besucherinnen und Besucher, die eine weite Anreise haben. Die europäische Bevölkerung ist überaltert und schrumpft, während anderswo eine jüngere und zunehmend wohlhabende Bevölkerung Europa bereist, jedes Jahr mehr und in immer rascheren Steigerungsraten.
Wo waren Sie zuletzt im Urlaub?
Mit dem Fahrrad an der Loire, in der leeren Mitte von Frankreich. Das fast 1000 Jahre alte Wort Urlaub heisst wörtlich: Entlassung aus der Pflicht. Für mich ist es die Entlassung aus der Pflicht, an besonders angesagte Orte zu fahren und dort Selfies zu machen und zu verschicken.