Gesellschaft 13. September 2024, von Veronika Jehle/Pfarrblatt Forum

Wenn der Vater plötzlich verschwindet

Diakonie

Die Zürcher Landeskirchen schliessen mit der Fachstelle ExtraMural eine Lücke, indem sie sich um Angehörige von Gefangenen kümmert, sie unterstützt und ihnen vor allem zuhört. 

Andrea (alle Namen von der Redaktion geändert) sitzt an einem einfachen Tisch am Fenster, rundherum fünf Stühle. Auf dem Tisch stehen Becher, darin Kaffee sowie ein Süssgetränk. Ihr Lebenspartner und die gemeinsame Tochter sitzen jetzt bereits nicht mehr am Tisch. Sie haben sich in die Kinderecke verzogen, die beiden lachen und tollen herum, sie tauchen in ihre eigene Welt ab. 

Andrea beobachtet sie, lächelt immer wieder. Sie lässt den beiden Zeit. Im Hintergrund ist Radiomusik zu hören, auf den Tischen rundherum sitzen andere, Familien oder Freunde. Ab und zu geht jemand zu einem der drei Automaten, lässt sich Getränke heraus oder Chipstüten. Kantinenatmosphäre. 

Er bleibt allein zurück

Exakt zur vollen Stunde läutet der Gong. An einigen Tischen erheben sich die Menschen, umarmen sich, Kinder geben Vätern schüchtern einen Kuss. Es ist Zeit. 

Während Familienagehörige und Freunde gehen, bleibt an jeder Tischgruppe ein Mann zurück. Die Gittertür öffnet sich, dann fällt sie ins Schloss. Die Besuchszeit ist vorbei. Hier, in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies, sind bis zu 399 Männer inhaftiert. In der Schweiz waren Anfang 2024 gesamt knapp 6900 erwachsene Personen in Haft. Die allermeisten von ihnen haben Angehörige, Partnerinnen oder Partner, Kinder und Eltern, Grosseltern, Freundinnen und Freunde. 

Zwei kostbare Stunden

Schätzungen zufolge leben in der Schweiz rund 50 000 Menschen als Angehörige von Inhaftierten, davon etwa 9000 Kinder. Wer in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies inhaftiert ist, hat pro Woche Anrecht auf eine Stunde Besuchszeit.

Andreas inhaftierter Lebenspartner sieht Partnerin und Tochter in der Regel jede zweite Woche zwei Stunden lang. Samstags, immer zur selben Zeit. Begleitet wird die Familie noch durch eine weitere Person, «angeordnete Besuchsbegleitung» nennt sich das. Sie ist für die Tochter da. Nach nunmehr fünf Jahren Haft des Vaters, zwei Jahre davon in der Pöschwies, gehört die Besuchsbegleitung für die Familie beinahe selbstverständlich dazu.  

Das grosse Tabu

Geht es um das Justizvollzugswesen, stehen Angehörige von Inhaftierten selten im Mittelpunkt. Dabei verändert sich ihr Leben genauso fundamental wie das derjenigen, die hinter Gitter müssen. 

Allermeist geschieht es plötzlich, von einer Sekunde auf die andere: festgenommen. Der Partner, die Partnerin weg, der Vater oder die Mutter weg. Wer verdient jetzt den Lebensunterhalt, der weggefallen ist? Wer übernimmt die Betreuungsarbeit, die Fürsorge? Wie umgehen mit den Kindern, denen ein Elternteil genommen wird? 

Es gehört zu den grössten Tabus in der Gesellschaft: Wie sage ich es dem eigenen Kind, der Familie? Was sage ich in der Nachbarschaft und in der Schule? Unzählige Fragen brechen über Betroffene herein. 

Kaum Ressourcen

In der Deutschschweiz gab es bisher nur wenige Ressourcen, um Angehörige in einem solch schwierigen Moment zu unterstützen. Deshalb haben die reformierte und die katholische Kirche im Kanton Zürich gemeinsam die Fachstelle ExtraMural finanziert und eingerichtet.

«ExtraMural» – das bedeutet «ausserhalb der Mauern»: 60 Stellenprozent als Pilotprojekt für drei Jahre, finanziert von den beiden Kirchen, strategisch geleitet von einer interreligiösen Steuergruppe. 

Interreligiös vernetzt

Die Stelle angetreten hat die Religionswissenschaftlerin Ivana Mehr. Zuvor war sie bei der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich als Migrationsbeauftragte angestellt. Seit Frühjahr 2023 arbeitet sie für die neue Fachstelle.

Mitgetragen wird das Pilotprojekt auch von der muslimischen und der christlich-orthodoxen Gefängnisseelsorge. Zudem kann die Fachstelle auf ein Netzwerk an Seelsorgeangeboten, Sozialberatungsstellen und Angeboten der kirchlichen Hilfswerke Heks und Caritas zurückgreifen. 

Ein riesiges Feld

Nach mittlerweile anderthalb Jahren Arbeit sagt Ivana Mehr: «Es ist ein riesiges Feld. Sehr viele Menschen sind betroffen, die allesamt unsichtbar sind, die keine Lobby haben, die auch nicht vernetzt sind, weil sie nicht in Erscheinung treten wollen.» Und weil das so sei, brauche es jemanden, der Vernetzungsmöglichkeiten anbiete. 

Gesprächsgruppe

ExtraMural plant den Aufbau einer Gesprächsgruppe für Angehörige. Einmal im Monat bietet sich in Zürich Angehörigen die Möglichkeit, in einem geschützten Rahmen über die Sorgen und Erlebnisse zu sprechen. Der Austausch unter Betroffenen, das Wissen, mit der herausfordernden Situ­ation nicht allein zu sein, kann helfen. 

Kontakt: 079 514 01 23, mehr@extramural.ch

Es ist Pionierinnenarbeit, die Ivana Mehr im Auftrag der Kirchen leistet. Seit Kurzem ist ihr Angebot auf den Websites sämtlicher Gefängnisse im Kanton Zürich sichtbar, da sich Angehörige oftmals zunächst im Internet informieren. 

Die grosse Ohnmacht

Dass es ExtraMural gibt, beginnt sich herumzusprechen. So hat Ivana Mehr allein in den Monaten Mai und Juni knapp 20 Anrufe entgegengenommen: «Meist kurze Kontakte, bei denen es um eine erste Orientierung geht. Die Angehörigen sind nach der Inhaftierung oftmals in einer Ohnmachtsphase und brauchen die wichtigsten Informationen: Was passiert als Nächstes? Wo kommt mein Angehöriger hin? Wie kann ich ihn besuchen?

Auch ein elfjähriges Mädchen hat Ivana Mehr angerufen: Sie suche Austausch mit anderen Kindern, die ebenfalls einen Elternteil im Gefängnis hätten. Ivana Mehr greift solche Anliegen auf und versucht, Angebote zu schaffen – in Kooperation mit anderen Organisationen. 

Der offene Wohnwagen

«Als Einzelfrau muss ich mich vernetzen, schauen, was es schon gibt, und gemeinsam etwas aufbauen.» Ein Partner ist der Verein «team72», der im Auftrag von Justizvollzug und Wiedereingliederung im Kanton Zürich arbeitet und 2022 ebenfalls eine Infostelle für Angehörige eingerichtet hat. 

Gelungen ist eine solche Zusammenarbeit mit dem «Familienmobil», das neu vor der Justizvollzugsanstalt Pöschwies steht: ein Wohnwagen mit offenen Fenstern und Türen, immer samstags geöffnet, mit Getränken, Kuchen, Informationen und Gesprächsmöglichkeiten für all jene Angehörigen, die auf Besuch ins Gefängnis kommen. 

Angehörige im Fokus

«Es war kein Problem, dafür Freiwillige zu finden», sagt Mehr. Auch die Bewilligung für das «Familienmobil» habe sie ohne bürokratische Hürden erhalten, das Mobil wird zunächst als Pilot noch bis Ende September im Einsatz sein. 

Angehörigenarbeit sei im Justizvollzug und in der Wiedereingliederung vermehrt in den Fokus gerückt, sagt Mehr. «Die Gründung unserer Fachstelle ist in eine gute Zeit gefallen.» Hauptgrund dafür sei, dass die Behörden daran arbeiteten, die Bedingungen zu verbessern, unter denen Angehörige zu ihren inhaftierten Familienmitgliedern Kontakt aufnehmen können. Das habe Schub gegeben für die Schaffung externer Anlaufstellen wie ExtraMural, einer Initiative der Landeskirchen. 

Betroffene Freiwillige

Eine der Freiwilligen, die das Projekt «Familienmobil» schon von Anfang an begleitet, ist Emilia. Sie nennt es «Lieblingsprojekt», weil es ihr ein «Herzensanliegen» sei, Informationen an Angehörige direkt und unkompliziert weiterzugeben. 

Ihr Engagement ist tief in ihrer eigenen Geschichte begründet: Emilia ist selbst eine Betroffene. Als sie 17 Jahre alt war, hat sie die Inhaftierung ihres Vaters miterlebt. Sie studierte dann Jura, «um die juristische Maschinerie hinter solch einer Entscheidung zu verstehen», arbeitete als Strafrechtsanwältin, engagierte sich für Freiwillige. 

Geschützt und isoliert

Seit Jahren und bis heute betreut Emilia eine Selbsthilfegruppe für Angehörige von Inhaftierten in jener Stadt in Italien, in der sie aufgewachsen ist. Seit Längerem schon lebt sie im Kanton Zürich und meldete sich gleich bei Ivana Mehr, als sie von der neuen Fachstelle las. 

Als Betroffene hätte ihr damals geholfen, wenn sie «mit jemandem hätte sprechen können, der sich auskannte». Emilia und ihre Brüder seien «wie in einer Kugel» gewesen, so habe sich das angefühlt, geschützt zwar von der Mutter und der Tante, doch isoliert. «Du weisst nicht mehr, wem du vertrauen kannst und wem nicht», wenn eine zentrale Vertrauensperson wie der eigene Vater beschuldigt und abgeführt werde. 

Trauma der Verhaftung

Was sie damals erlebt hat, ist für Emilia bis heute ein Trauma geblieben: Wie es um 5 Uhr morgens an der Türe läutet, die eigene Mutter ins Zimmer kommt und schlicht sagt: «Kommst du bitte», wie gleichzeitig Polizisten im Raum stehen und einer herumschreit. 

«Ich war ohne Brille und ohne Kontaktlinsen, hilflos meiner Kurzsichtigkeit ausgeliefert. Ich habe diese nebelhafte Erinnerung, ich habe so viele Leute gesehen: Was machen sie? Wer sind sie? 1000 Millionen Fragen in meinem Kopf. Es war ein 9. März, ein Tag nach dem Frauentag, und ich weiss noch, wie mir als Erstes so ein Scherz durch den Kopf ging: ‹Sind sie gekommen, weil du uns keine Blumen gekauft hast?›, wollte ich meinen Vater fragen. Ach, und dann ging alles so schnell. Ich war nicht mehr so klein, aber auch noch nicht erwachsen. Es war ein grosses Chaos.» 

Nicht mehr nur Mauern

Die langjährige Arbeit mit anderen Betroffenen habe ihr nicht nur selbst geholfen, sondern immer wieder bestätigt, dass das Reden und Austauschen über Gefühle für Erwachsene wie für Kinder und Jugendliche in dieser Situation unersetzbar wichtig sei: «Am schlimmsten ist eigentlich, dass du plötzlich nicht mehr wie gewohnt miteinander sprechen kannst. Du lebst von einer Sekunde auf die andere nicht mehr nach deinen eigenen Regeln.»

Orte wie das «Familienmobil» sind nach Emilias Erfahrung ideal, um ein erstes Gesprächsangebot an Betroffene zu machen. Seit der Wohnwagen immer samstags seine Fenster und Türen öffnet, hat sich auch für Andrea und ihre Tochter etwas verändert: «Es ist da nicht mehr nur eine Mauer mit den Insassen dahinter, wenn wir zum Gefängnis kommen. Jetzt sehen wir in freundliche Gesichter, begegnen Menschen, die wir inzwischen kennen und einmal ein gutes Wort oder ein andermal einen Tipp für uns haben.» 

Persönliche Ermutigung

Obwohl die beiden nach all den Jahren ihre Routine haben und nicht mehr jeder Besuch grosse Fragen auslöst, hilft ihnen das Angebot. «Es ergibt auf alle Fälle Sinn, vor allem für jene, die neu in diese Situation kommen und viel schneller Informationen und persönliche Ermutigung bekommen», freut sich Andrea über die Entwicklung. Und hofft, dass das «Familienmobil» mit Ivana Mehr und all den Freiwilligen bleiben darf, über diesen Herbst hinaus.