Der Boden ist übersät mit Erinnerungen: Spielsachen und Kleidungsstücken, Fotos und Papierstapel. Bei Stella steht in der nächsten Zeit ein Umzug an. Doch das Ausmisten fällt der emotional belasteten Frau sehr schwer. Zum Glück ist Karen da.
Geduldig hält Karen einen alten Pullover in den Händen. «Brauchst du den noch?», fragt sie. Stella zögert, lächelt dann und schüttelt den Kopf. Das Stück wandert in die Kiste für die Altkleidersammlung.
Gemeinsam anpacken und Nächstenliebe leben
Wegbegleitung bringt Menschen zusammen, die Hilfe brauchen, und solche, die helfen möchten. Das Angebot trifft den Nerv der Zeit. Immer mehr Kirchgemeinden zeigen Interesse.
Zu zweit geht es besser: Die Wegbegleiterin Karen beim Entsorgen mit Stella, die Mühe hat, sich von Dingen zu trennen. (Foto: Désirée Good)

Zuhören und ermutigen
Karen, die genauso wie Stella in der Zeitung nur ihren Vornamen lesen will, ist eine Wegbegleiterin. Sie hilft ihrer Klientin dabei, die Dinge in der langjährigen Wohnung in der Stadt Zürich zu sortieren und sich von Überflüssigem zu trennen. Sie hört zu und ermutigt. «Manchmal ist es einfacher, Dinge loszulassen, wenn jemand dabei ist, der mitfühlt.»
Wegbegleitung ist ein Projekt der reformierten Landeskirche Zürich und richtet sich an Leute in schwierigen Lebenssituationen. Dabei geht es nicht allein um praktische Hilfe wie etwa eine Wohnungsauflösung, Behördengänge oder Arztbesuche. Vielmehr spielen auch zwischenmenschliche Beziehungen und Zuwendung eine wichtige Rolle.
«Jede Wegbegleitung beginnt mit einem persönlichen Treffen. Dabei schauen wir, ob es passt», sagt Barbara Morf Meneghin, die das Projekt vor fast zehn Jahren in der Kirchgemeinde Höngg ins Leben rief. Seit 2019 betreut sie es unter dem Dach der Streetchurch für die gesamte Kirchgemeinde Zürich.
Ein zentraler Unterschied zu klassischen kirchlichen Besuchsdiensten wie Va bene ist die zeitliche Begrenzung des Engagements. Im Fall von Stella und Karen wurde diese auf drei Monate festgelegt, die Frauen einigten sich auf wöchentliche Treffen von je zwei Stunden.
Nach dem ersten Kennenlernen agiert das Tandem dann eigenständig, während die Projektleiterin im Hintergrund bleibt. Klar definiert ist auch der Aufgabenbereich. Die Diakonin betont, wie wichtig es ist, die eigene Rolle genau zu kennen. Dieses Verständnis wird auch im Rahmen der Schulungen vermittelt, in denen die Freiwilligen anhand konkreter Fälle auf ihre Einsätze vorbereitet werden.
Einen regelrechten Aufschwung erlebt das Sozialprojekt derzeit in den beiden Winterthurer Kirchgemeinden Veltheim und Wülflingen. Dort wurde die Wegbegleitung vor rund einem Jahr offiziell gestartet, nachdem bereits 2023 Schulungen für über 30 Freiwillige stattgefunden hatten. «Der Bedarf ist tatsächlich enorm», berichtet Pfarrerin Esther Cartwright. «Viele Betroffene haben keine Familie oder ein Netzwerk, das sie auffangen könnte.»
Eigene Stärken und Grenzen reflektieren
Das Projekt Wegbegleitung existiert im Kanton Zürich seit 2015. Neben den bestehenden Standorten der Kirch-gemeinden Zürich, Uster, Wetzikon, Pfäffikon und neu Veltheim und Wülflingen stehen derzeit zwei weitere Kirchgemeinden kurz vor der Ein-führung. «Das zeigt, dass das Angebot gebraucht wird», sagt Simone Sie-genthaler, Fachmitarbeiterin Freiwilligenarbeit der Abteilung Kirchen-entwicklung der reformierten Zürcher Landeskirche. Die Ausbildung der Freiwilligen liegt in ihrer Verantwortung und wird in Zusammenarbeit mit den interessierten Kirchgemeinden organisiert. Die Landeskirche unterstützt dabei mit Schulungen, stellt Formulare zur Verfügung und leitet den Erfahrungsaustausch. Die Ausbildung erstreckt sich über vier Abende und behandelt Themen wie Rollenverständnis, Kommunikation, Nähe-
Distanz oder Migration. Die Freiwilligen entscheiden selbst, welche Unterstützung sie anbieten möchten. In der Schulung reflektieren sie ihre Stärken und Grenzen. Die jewei-lige Kirchgemeinde übernimmt die Koordination, sorgt dafür, dass die Leute zusammenpassen.
Das Projekt Wegbegleitung schliesse eine wichtige Lücke zwischen ins-titutioneller und nachbarschaftlicher Hilfe. «In Ergänzung zu den staatlichen Angeboten handelt es sich um ein kirchliches Leuchtturmprojekt, das unkompliziert und niederschwellig Menschen in Krisensituationen unterstützt», betont Siegenthaler.
www.zhref.ch/wegbegleitung
Sich immer wieder melden
Oft sind Menschen in psychischen Krisen oder in prekären finanziellen Situationen auf Unterstützung angewiesen. So begleitet zum Beispiel eine Freiwillige das Kind einer Working-Poor-Familie jeweils zur Therapie, eine andere unterstützte einen Mann engmaschig mit Besuchen und Telefonaten in der für ihn herausfordernden Weihnachtszeit.
Auch Tandems mit hoch qualifizierten Geflüchteten gehörten dazu. Hier stehen dann die Integration und Sprachförderung im Fokus.
Wartelisten mit Hilfsbereiten
Die Zahlen sprechen für sich. 31 Tandems entstanden allein 2024, 15 sind abgeschlossen. Insgesamt wurden 572 Einsatzstunden geleistet, nicht mitgerechnet sind die Zeit für Schulung und Administration. Die Nachfrage ist laut Cartwright so hoch, dass sie froh ist, sich auf zahlreiche Freiwillige verlassen zu können. Bereits führt die Pfarrerin eine Warteliste mit neuen Freiwilligen.
«Viele haben selbst Brüche in ihrer Biografie erlebt und wollen aus Dankbarkeit etwas zurückgeben», sagt die Pfarrerin. Die Kirche mit ihrem Netz an Freiwilligen spiele dabei eine besondere Rolle. Sie gebe dem Projekt einen «Vertrauensvorschuss», sowohl bei den Helfenden als auch bei den Menschen, die Hilfe suchen. «Es handelt sich um gelebte Nächstenliebe. Jede Kirchgemeinde sollte ein solches Projekt haben, denn die Notwendigkeit ist bei der gesellschaftspolitischen Realität leider riesig.»
Unterdessen entsorgen Karen und Stella Abfall und Karton bei einer Sammelstelle. Stella bemerkt während des Fotografierens scherzhaft: «Wir werden noch berühmt!» Auf die Frage, warum sie sich engagiert, hat Karen sogleich eine bestechend einfache Antwort: «Es macht mich reich.»