Wenn das Leben aus dem Gleichgewicht gerät

Psychiatrie

Die Kirche bearbeitet ein Feld, das oft übersehen wird: die Not psychisch Belasteter und ihrer Angehörigen. Pfarrer Jörg Wanzek baut in der Stadt ein neues Seelsorgeangebot auf.

Am Mittwochnachmittag fällt warmes Licht durch das runde Fenster des Nordliecht an der Wehntalerstrasse in Zürich-Affoltern. Seit zwei Jahren ist der niederschwellige Treffpunkt der Stiftung Pro Mente Sana hier im neuen Glaubten-Areal von der Kirchgemeinde Zürich untergebracht. Er ist hell, offen und gut erreichbar. Der Raum wirkt freundlich und ruhig, ein langer Tisch steht im Zentrum, in der Ecke Bücherregale und eine Couch.  Rund ein Dutzend Menschen sitzen beisammen. Eine Frau erzählt, sie komme seit einem Trauerfall einmal pro Woche hierher, «es hilft, ins Leben zurückzufinden». Ein Mann sagt, er komme fast täglich, «weil man hier nicht allein bleibt». Pfarrer Jörg Wanzek setzt sich dazu, hört zu, unterhält sich.

Neue Formen erproben

Seit April baut er in der Kirchgemeinde Zürich das Projekt «Church with you» auf, ein Angebot für Menschen mit psychischen Belastungen und ihre Angehörigen. Hierfür stehen ihm eigene Pfarrstellenprozente zur Verfügung, mit denen er ausserhalb der Psychiatrie neue Formen der Seelsorge erprobt. Die Entwicklungsphase gebe ihm die Möglichkeit, unterschiedliche Orte und Zugänge auszuprobieren.  «Menschen mit psychischen Problemen erleben existenzielle Krisen», sagt er. «Unsere Psyche ist zerbrechlich. In solchen Momenten ist es wertvoll zu spüren, dass jemand mit einem ist.» Psychische Erkrankungen seien zudem oft tabuisiert. «Deshalb tut es gut zu merken, dass man von der Kirche nicht verurteilt oder übersehen wird.» 

Im konfessionsneutralen Treffpunkt Nordliecht treffen sich Menschen mit psychischen Belastungen, sie essen zusammen, kommen ins Gespräch. Für viele ist es einer der wenigen Orte, an denen sie ohne Erklärungen ankommen dürfen. Einsamkeit sei ein häufiges Thema hier, sagt Heidi Bremi, die Fachmitarbeiterin vor Ort. Sie sorgt dafür, dass der Treffpunkt läuft. Viele Besucher seien chronisch belastet und froh um einen Ort, an dem sie einfach sein können.  An diesem Nachmittag überreicht eine Besucherin Wanzek «Das Tibetische Buch vom Leben und Sterben». Sie möchte mit ihm über Religion sprechen. Für ihn zeigt dieser Moment, wie existenzielle Fragen in Krisen neu hervortreten. «Die Menschen hier sind interessiert», sagt er, «und Gesprächspartner, die sich nicht mit Floskeln zufriedengeben.» Solche Gespräche erlebten viele als sehr entlastend, gerade wenn Worte sonst fehlen.  Wanzek vernetzt sich mit Peerpersonen, bestehenden Angeboten und Institutionen wie Pro Mente Sana, der Psychiatrieseelsorge und der Angehörigenbewegung Stand by you.

Vor Kurzem zeigte er im Kirchenkreis 6 Annina Furrers Dokumentarfilm «Ignoriert von der Psychiatrie». Angehörige erzählten, wie selten sie ernst genommen würden und wie zentral Beziehungen im Prozess einer Genesung seien. Solche Abende zeigten, wie gross der Bedarf nach Orten sei, an denen Menschen nicht nur über Diagnosen und Therapien sprechen, sondern auch über Sinn, Hoffnung und Erschöpfung. Auch gesellschaftlich wachse das Bewusstsein für die Bedeutung der Angehörigenarbeit. 

Angehörige in der Bibel 

Vor Kurzem erst predigte Wanzek in der Pauluskirche über biblische Geschichten, die von Angehörigen erzählen: die syrophönizische Mutter, die für ihre kranke Tochter kämpft; Freunde, die einen Gelähmten durch ein Dach zu Jesus hinunterlassen; der Vater, der ruft: «Ich glaube – hilf meinem Unglauben.» «Es geht um Menschen, die einstehen, wenn jemand selbst nicht mehr kann.» Eine aktuelle Studie zeigt, dass in der Schweiz über zwei Millionen Menschen Angehörige von psychisch Erkrankten sind. «Wenn wir sie sehen und begleiten, kann das überaus tröstlich sein.»  Oft habe er berührende Begegnungen. Etwa mit Rolf, seit 40 Jahren verheiratet, dessen Frau bipolar erkrankt ist. «Er erzählte, wie er über Nacht mit den Kindern allein dastand und wie wenig die Psychiatrie ihn damals einbezogen hat.» Ein Satz begleite ihn wie ein Leitstern: Er wünsche sich, dass aus Angehörigen und Direktbetroffenen auch Angehörte werden. 

Gegen 16 Uhr verabschieden sich die Gäste im Nordliecht, einige holen ihre Jacken, andere räumen Teller weg. Eine Frau wartet noch auf ein Einzelgespräch, eine andere lächelt Wanzek an und sagt: «Bis nächste Woche.» Sandra Hohendahl-Tesch