Kultur 14. August 2024, von Felix Reich

Der Kampf um die eigene Geschichte

Literatur

Percival Everett legt mit «James» einen brillanten Roman vor. Er spinnt «Huckleberry Finn» mit Scharfsinn und Fabulierlust weiter. Dabei entlarvt er die Maskerade des Rassismus.

Es ist ein Sprachunterricht der speziellen Sorte. Der Sklave Jim, der eigentlich James heisst, lehrt präventiv seinen Kindern ein grammatikalisch unterkomplexes Idiom. Und er ermahnt sie, den Weissen nie eine Lösung zu präsentieren. Selbst wenn es um Leben und Tod geht, sollen die Sklaven nur so viel sagen, dass ihre Besitzer von selbst auf die Idee kommen, was jetzt zu tun sei.

Macht und Gewalt

Der amerikanische Schriftsteller und Professor für Literatur Percival Everett erzählt «Die Abenteuer des Huckleberry Finn» (1885) neu. Darin täuscht Huck seinen Tod vor, um der Gewalt des alkoholsüchtigen Vaters zu entkommen. Auf einer Insel sucht er Zuflucht und verbündet sich mit dem gutmütigen Sklaven Jim, der die Flucht angetreten hat, weil er verkauft werden soll.

Twain erzählt aus der Perspektive des ungebildeten Südstaatenjungen und hält die Sprache kunstvoll einfach. Everett übernimmt die Strategie, stellt den Roman aber auf den Kopf. Zum Erzähler macht er Jim, der sich James nennt. Jim ist sein Sklavenname: Die Weissen wollen alles besitzen und ergreifen deshalb die Macht über die Sprache.

Überhebliches Mitleid

Huck hasst die Sklaverei und verwickelt James auf der Flucht über den legendären Mississippi in Gespräche über andere Gesellschaftsformen. Allerdings speist sich in Everetts Version Hucks Mitleid zu Beginn aus dem weissen Überlegenheitsgefühl.

James muss seine offensichtliche Überlegenheit verstecken. Ohnehin würde er Huck oft am liebsten loswerden und sorgt sich dennoch um ihn. Die Ambivalenz erscheint durch die geniale Schlusspointe des Romans in einem ganz neuen Licht. 

Kein sicherer Ort

James hatte sich in der Nacht jeweils in die kaum genutzte Bibliothek seiner Besitzer geschlichen und lesen gelernt. Als er mit Huck in einem Schiff philosophische und literarische Schätze erbeutet, muss er behaupten, er behalte die Bücher nur, weil sie so gut röchen.

Anders als bei Twain wird die Natur entlang des Mississippi nicht als von der Zivilisation und menschlichen Zwietracht verschonte Idylle beschrieben. James ist jederzeit gefährdet. Selbst im Wald drohen die Bluthunde seine Fährte aufzunehmen oder ihn fremde Plantagenbesitzer aufzugreifen. Wer schwarz ist, kann sich nicht sicher fühlen.

Die Freiheit des Lesens

James liest die Philosophen Locke, Rousseau und Voltaire und verfasst mit dem Bleistiftstummel, den ihm ein befreundeter Sklave beschafft, hellsichtige Kommentare. Romane wiederum entführen ihn in neue Welten: «Ich war woanders. Ich war weder auf der einen noch auf der anderen Seite dieses verdammten Flusses.» Das Lesen wird für den Sklaven zur «vollkommen privaten Angelegenheit, vollkommen frei und daher vollkommen subversiv».

Doch selbst diese Welt bietet keinen Schutz vor der Verfolgung. Als James kurze Zeit allein ist, liest er zu viel, ihm fehlt die Zeit, seine Gedanken zu ordnen. Und er droht in seinem Hunger nach intellektueller Nahrung zu vergessen, sich zu verstecken. «Nie hatte ich mich ungeschützter und wehrloser gefühlt als bei Tageslicht mit einem aufgeschlagenen Buch.» Die Möglichkeit, als gebildet enttarnt zu werden, verdoppelt die Gefahr.

Kein Opfer mehr

Im Büchersack befindet sich auch eine Bibel. Doch auf sie kann James sich nicht einlassen. Sie erscheint als ein «Werkzeug des Feindes», das Christentum als Herrschaftsreligion. 

«Ich wähle noch heute das Wort Feind, weil Unterdrücker zwangsläufig ein Opfer voraussetzt.» Es ist ein Schlüsselsatz des Erzählers. Er will sich seine eigene Sprache, seine eigene Geschichte erkämpfen. 

Manipulierte Religion

Das Christentum wurde durch die Gewaltherrschaft der Weissen okkupiert und pervertiert. Mit seiner schonungslosen Analyse übt Percival Everett die stets notwendige Religionskritik: Wann wird Religion zum Herrschaftsinstrument?

James erkämpft sich seine eigene Geschichte. Sein Kampf führt durch Abgründe. Der Sklave, der den Bleistift beschafft hat, wird brutal gelyncht. Nicht nur die schreckliche Strafe für den Diebstahl eines fast wertlosen Stifts zeigt die absurde Grausamkeit des Systems. 

Die Ketten gesprengt

Zugleich befreit sich James, der als Kind verkauft wurde und nichts von seiner Herkunft und nicht einmal seinen richtigen Namen kennt, aus dem Gefängnis der eigenen Geschichtslosigkeit: Mit seinem Bleistift schreibt er sich «ins Dasein».

In seinem brillanten Roman entlarvt Everett die grausamen Maskeraden des Rassismus. Und er schickt James als empathischen, wütenden und klugen Erzähler in den Kampf für Freiheit und Würde.

Percival Everett: James. Aus dem Englischen von Nikolaus Stingl. Hanser, 2024.