«Ich möchte kein fixes Bild eines Menschen haben»

Interview

Frère Matthew leitet seit Dezember 23 die Gemeinschaft von Taizé. In den fast 40 Jahren, seit er dort lebt, arbeitet er täglich mit Jugendlichen. Er stellt Beunruhigendes fest. 

Sie leben seit 1986 in der Gemeinschaft von Taizé, seit Dezember 2023 sind Sie Prior. Was hat sich durch die neue Rolle für Sie geändert?

Ich hoffe, nicht viel. Mir ist es sehr wichtig, mich selbst sein zu können und nicht jemand zu werden aufgrund einer neuen Rolle. Die wichtigste Aufgabe des Priors von Taizé ist es, stets im Dienst der Gemeinschaft zu handeln. Ich höre den Brüdern zu, und die Tür meines Zimmers steht stets offen. Und dabei versuche ich zu vermeiden, ein fixes Bild von einem Menschen zu haben und stets offen für neue Erkenntnisse über ihn zu sein. 

Wie war Taizé 1986? Und was ist es heute?

Wir sind eine universellere Gemeinschaft geworden. Nicht nur die Brüder, alle hier kommen aus vielen Weltregionen. Stark verändert hat sich zudem der Zeitgeist. Vor und nach dem Fall der Mauer war eine Zeit, in der wir Optimismus schöpften, es folgte eine Zeit der Stabilität. Heute haben wir viel mehr Sorgen, vor allem seit der Pandemie. Mit den Kriegen in Europa und im Nahen Osten realisieren wir, dass sich der Frieden, von dem wir dachten, dass er endlich da ist, extrem verletzlich ist. Man fragt sich: Hat er überhaupt je existiert? 

Spüren Sie diese Sorgen im Alltag von Taizé?

Sie werden in den Gesprächen mit den Jugendlichen sehr deutlich. Sie haben viele Ängste. Der Klimawandel, die Krisen und die weltweite Ungerechtigkeit sind in ihrer Gedankenwelt sehr präsent. Das Schöne ist: Ich spüre ihr starkes Bedürfnis, etwas dagegen zu tun. Das ist grossartig. Aber unsere Aufgabe ist es nicht, ihnen zu sagen, was zu tun ist, sondern ihnen zu helfen, ihre Ideen zu entdecken, die bereits in ihnen stecken. Diesen Sommer sind wieder viel mehr Jugendliche zu uns gekommen. Sie sehnen sich nach Gemeinschaft und verstehen, dass sie nicht allein sind in der Welt. 

Unsere Aufgabe ist es nicht, den Jugendlichen zu sagen, was zu tun ist, sondern ihnen zu helfen, ihre Ideen zu entdecken, die bereits in ihnen stecken.

Ganz konkret: Wie können Sie und die Brüder sie dabei unterstützen?
Gestern Abend erzählten zwei Freiwillige in der Kirche, was Ihnen hier hilft. Beide sagten unabhängig voneinander: «Zu spüren, dass man mir vertraut.» Das ist ein Schlüsselsatz. Wir hören ihnen zu und vermitteln ihnen, dass Gott in jedem Menschen Wunderbares gesät hat. Dem geben wir Raum, durch Zuhören und durch Stille. 

Das Vertrauen erlitt einen massiven Eindruck nachdem Ihr Vorgänger, Prior Alois, 2019 Fälle von sexuellem Missbrauch publik gemacht hatte. Wie steht es damit heute?

Das war ein Schock für alle. Ein Bruder sagte, es sei, als hätten wir unsere Unschuld verloren. So war es, und wir mussten alles daran setzen, das Vertrauen wiederherzustellen und transparent zu sein. Wir hörten sofort den Betroffenen zu und zogen daraus unsere Konsequenzen. Alle Brüder und auch die Freiwilligen besuchen regelmässig Trainings zu Nähe und Distanz und asymmetrischen Beziehungen. Auch für unsere Gäste gibt es jede Woche Workshops zum Thema. Immer wieder erzählen uns darin junge Menschen von Missbrauch, den sie erlebten, aber nicht in Taizé, sondern an anderen Orten. 

Der Misstrauensbruch hat also quasi zu einem noch grösseren Vertrauen danach geführt? 

Ja. Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle hat unsere Art, Menschen zu begleiten, revolutioniert. Wir haben die Bedeutung von Freiheit und Würde jeder Person noch besser verstanden. Wenn ich sage «Das ist eine gute Idee, wenn du das tun willst», dann ist das zwar gut gemeint, aber ich gerate schnell in eine Situation, in der ich plötzlich jemandem sage, was richtig und falsch ist. Da gerät man schnell auf Glatteis. 

Was sagen Sie stattdessen?

Ich sage: «Was denkst du selbst darüber?» Ich gebe die Frage zurück. Wenn mein Gegenüber dann sagt: «Ich glaube, ich muss es so und so machen», antworte ich «Das ist gut, wenn du das so entschieden hast. Denk darüber nach.» Ich reformuliere nur damit er oder sie selbst darüber nachdenkt. Schon Bruder Roger sagte, wir dürfen niemals spirituelle Meister sein, wir hören nur zu. Doch Menschen neigen dazu, jemandem helfen zu wollen und die eigene Meinung einzubringen. Das ist an sich gut, aber in der Position, in der wir sind, müssen wir vorsichtig sein. Wir müssen anderen ihren Raum geben und dürfen ihnen ihre Freiheit nicht wegnehmen.

Warum zieht Taizé so viele junge Menschen an?

Ich denke, weil es eine aktive Wahl von uns ist. Unsere Gastfreundschaft richtet sich an junge Menschen, und es gibt nicht viele Orte, wo sie unter sich sein können. Als ich zum ersten Mal herkam, war es total neu für mich, soviel Zeit mit Gleichaltrigen, ohne Erwachsene zu verbringen und elementare Fragen zu stellen. Das gab mir enorm viel Kraft. Und das ist es, was wir hier wollen: Kraft geben. 

Die Aufarbeitung der Missbrauchsfälle hat unsere Art, Menschen zu begleiten, revolutioniert. Wir haben die Bedeutung von Freiheit und Würde jeder Person noch besser verstanden.

Haben sich die Fragen der Jugendlichen geändert in all den Jahren?

Eine Sehnsucht ist immer konstant geblieben: Sie wollen herausfinden, was der Sinn des eigenen Lebens ist. Und sie fragen, ob sie diesen durch das Gebet, den Glauben finden können. Neu sind Fragen zum Klimawandel und zu Identität und Gender. Auch da gilt für uns: Zuhören ohne zu urteilen, und sie unterstützen, sich mit ihren Entscheiden auseinanderzusetzen. In vielen Situationen ist es einfach, nach dem zu handeln, wie man sich gerade fühlt. Aber einige Fragen im Leben benötigen eine längere Auseinandersetzung. 

Genderfragen sind in vielen Kirchen ein schwieriges Thema, sie polarisieren. 

Wir heissen alle willkommen. Manche Menschen sind sehr verletzt und brauchen einen Safe Space. Sie haben oft die Tendenz, etwas zu überkompensieren und ihresgleichen zu suchen, das ist normal. Wir möchten hier aber keine geschlossenen Gruppen. Jeder und jede soll sich willkommen fühlen, so wie er oder sie ist. Es braucht Gastfreundschaft von jeder Seite. Wir hatten bereits einige Trainings zu diesem Thema. 

Warum wird in Taizé jede Woche Ostern gefeiert?

Weil Ostern das Herz des Christentums ist. In der heutigen Welt, wo es so viel Leid gibt, ist es essentiell, dass wir die Hoffnung der Auferstehung neu entdecken. Obwohl die Auferstehung schwierig zu verstehen ist, sollten wir sie in unserem Glauben willkommen heissen und uns diesem Zeugnis anvertrauen. Sie zeigt uns, dass der Tod nie das letzte Wort hat. Diese Botschaft ist enorm wichtig heute. Sie schenkt uns die Hoffnung, die uns nicht ob der schwierigen Krisen resignieren lässt. Und wir vermögen daran zu glauben, dass eine andere Welt möglich ist, auch wenn es unmöglich erscheint. Ostern ist eine tägliche Realität, nicht nur ein Mal pro Jahr. Jeden Tag erleben wir die Kreuzigung und Auferstehung von Christus. 

Wo sehen Sie die Herausforderung der Kirche in Westeuropa?

Ich denke, es war und bleibt die grösste Herausforderung, wie man das Evangelium einfach und konsequent lebt. Wie man keine Angst vor Entscheiden hat, die unser Glaube von uns verlangt. Wir müssen weniger besessen von Struktur und Anzahl sein sondern akzeptieren, dass Christen vielleicht nur noch eine Minderheit in der Gesellschaft sein werden, die Kirche nicht mehr Teil der Staatskultur ist. 

In der heutigen Welt, wo es so viel Leid gibt, ist es essentiell, dass wir die Hoffnung der Auferstehung neu entdecken.

Und wie sollen die Kirchen auf diese Entwicklung reagieren?

Wir müssen uns überlegen, wie Christen Menschen sein können, die zuhören und Dialog führen. Es geht nicht darum zu sagen: «Wir kennen die Wahrheit, du musst das und das glauben.» Sondern darum, Menschen dort begegnen, wo sie sind. Wir leben in multikulturellen Gesellschaften, und es gibt Tendenzen in der Politik, welche die Menschen auseinandertreiben, polarisieren. Jesus ging über sämtliche kulturelle Barrieren hinweg auf Menschen zu. 

Wird der interreligiöse Dialog auch in Taizé geführt?

Immer im Juli haben wir eine Woche der Freundschaft zwischen Islam und Christentum. Wir gestalten das sehr einfach. Es kommen vor allem junge Muslime aus Frankreich, aber auch von Deutschland und England, sowie Imame. Wir beten gemeinsam, und es gibt Inputs von einem Imam gemeinsam mit einem Bruder. Wir anerkennen unsere Unterschiede und stärken zugleich unsere Freundschaft.

Zeigt dieser gelebte Dialog Wirkung? 

Was mich am meisten erstaunte, war die Aussage einiger junger Muslime, die sagten: «Wir wussten gar nicht, dass wir an einem christlichen Ort willkommen und akzeptiert sind.» Das ist eine sehr wichtige Aussage, gerade hier in Frankreich. Wenn wir ans Evangelium glauben, bedeutet das, dass wir alle Menschen lieben sollten, egal woher jemand kommt. Das ist nicht einfach, aber wir können uns vor diesem Auftrag nicht davor drücken. 

Prior Matthew

Frère Matthew wurde am 10. Mai 1965 mit dem bürgerlichen Namen Andrew Thorpe in Pudsey bei Leeds in der englischen Grafschaft West Yorkshire geboren. Als 20-Jähriger kam der Anglikaner erstmals nach Taizé und trat im Jahr darauf, 1986, in die Communauté ein. Im Dezember 2023 löste er den deutschen Katholiken Frère Alois ab. Dieser hatte 18 Jahre lang die Gemeinschaft geleitet.