Ein Ort der Hoffnung in einer Welt, die Angst macht

Spiritualität

Jährlich reisen Zehntausende Menschen in die ökumenische Gemeinschaft Taizé im Burgund. Worin besteht ihre Anziehungskraft? Ein Selbstversuch. 

Als ich an diesem Sonntag im Oktober ins Auto steige, um nach Hause zu fahren, bleibe ich einige Minuten still sitzen. Üblicherweise suche ich in diesem Moment eine passende Playlist auf dem Handy. Doch nun irritiert mich der Gedanke an Musik. Ich verspüre eine tiefe Ruhe in mir. Hat der Geist, von dem mir auf diesem Hügel mitten im Burgund so viele berichteten, tatsächlich auch mich ergriffen? 

Rückblende. Zuvor am Donnerstag brause ich (mit lautem Bluesrock) auf der Autobahn nach Frankreich. Mit zwiespältigen Gefühlen blicke ich drei Tagen in der ökumenischen Gemeinschaft Taizé entgegen. Der Schweizer reformierte Theologe Roger Schutz hatte sie 1944 gegründet, heute leben dort 60 Brüder verschiedener Länder und Konfessionen. Gemeinsam mit Dutzenden Freiwilligen begrüssen sie jährlich Zehntausende Jugendliche, die zumeist eine Woche bleiben, dreimal am Tag singen und beten sowie Workshops zu biblischen und gesellschaftlichen Themen besuchen. 

Massenveranstaltungen sind mir suspekt. Als ich zum Parkplatz fahre, sehe ich Baracken, Campingplätze und überall Menschen. Attraktiv sieht der Ort nicht aus. Doch kommen viele immer wieder her, und mancher Mann tritt der zölibatär lebenden Bruderschaft bei. Ich will herausfinden, was die Anziehungskraft von Taizé ist. 

Warme Gefühle aus unerwarteter Ecke

Im Empfangshaus heisst mich der Medienverantwortliche, Frère Sebastien, auf Englisch willkommen. Ich erkenne seinen Akzent und antworte auf Holländisch, der Sprache meines Vaters. Sebastien ruft strahlend: «Wie schön!» Sofort tauschen wir uns über unsere Wurzeln aus. Keine zehn Minuten nach meiner Ankunft schon so warme Gefühle zu empfinden, hätte ich nie erwartet. 

Ich wohne im Gästehaus in einem Einzelzimmer. Das dürfen nur Paare, ältere Leute und, zum Glück, Journalisten. Alle anderen logieren in Massenschlägen. Während ich meine Kleider auspacke, ertönt ein Zischen, das rasant zum Höllenlärm anschwillt. Mein Atem stockt. Dann sehe ich zwei Mirage tief am Himmel durchrasen. Der Anblick ist absurd: oben Kampfjets, unten ein Ort, wo Frieden gelebt wird. 

Der Anblick ist absurd: oben Kampfjets, unten ein Ort, wo Frieden gelebt wird.

«Wir liegen im Trainingsgebiet der französischen Luftwaffe», sagt Frère Sebastien beim Abendessen. Zu zweit sitzen wir in einem Zimmer, alle anderen Gäste essen in Gemeinschaftsräumen. Er möchte in Ruhe meine ersten Fragen beantworten, zudem liegt ein strenger Tag hinter ihm. Am Wochenende werden wie jedes Jahr im Oktober rund 3500 Jugendliche aus allen Ecken Frankreichs anreisen, das gibt für alle hier gehörig zu tun. 

Für viele dieser Teenager ist die Zeit in Taizé, zu der die Bistümer sie einladen, die einzige Möglichkeit, überhaupt mal wegzukommen, die meisten stammen aus ärmeren Verhältnissen. Doch gleich ob arm oder aus gutbürgerlichem Haushalt wie zahlreiche Jugendliche aus Deutschland und der Schweiz: «Viele schauen sich entgeistert um, wenn sie aus den Bussen steigen», erzählt Sebastien, während er eine Rotweinflasche aufschraubt. «Hier gibt es ja nichts ausser eine Kirche und Wohnbaracken. Doch dann beim Abschied eine Woche später umarmen viele weinend ihre neuen Freunde.»  

Nacheinander zwei Schocks

3500 in einer Woche? Sebastien nickt. «In diesem Jahr haben bisher 50 000 Leute hier übernachtet. Wir haben die Krise überwunden.» Es ist eine Anspielung auf die schlimmste Zeit der Gemeinschaft. Als 2019 der damalige Prior Alois bekannt machte, dass einige Brüder sexuellen Missbrauch begangen hatten, war das ein gewaltiger Schock für die Gemeinschaft und ihre Anhänger. Ein Jahr später dann blieben wegen der Pandemie schliesslich ganz alle Gäste fern. Die Einnahmen aus den Beiträgen der Besucher und dem Verkauf der hochwertigen Töpferwaren, welche die Brüder produzieren, versiegten praktisch ganz.  

Regenbogenfahne unnötig

Um 20 Uhr springt Sebastien auf. Bald beginnt das Abendgebet, er wird ein Stück auf der Orgel spielen. Musik ist seine Passion. Vorhin beim Essen lauschten wir zwei Taizé-Liedern ab seinem Handy, die er mit Musikern aus dem Libanon und einem Amsterdamer Orchester arrangiert hatte. Er nahm Dutzende Alben auf, auf denen Musiker und Sänger verschiedenster Kulturen die typischen Taizé-Lieder begleiten. 

Zum Gebimmel der Glocken strömen aus allen Richtungen Menschen zur grossen Holzkirche. Wie viele andere eile ich noch schnell in die Toilettenbaracke neben der Kirche. Auf den Wänden sind Sprüche wie «God loves you! So go and do it yourself too» oder «Every time you feel the pain, come to Taizé» gekritzelt. Neben den Waschbecken hängt ein Plakat mit verschiedenen Anlaufstellen im Fall von sexuellem oder spirituellem Missbrauch. 

Obwohl ich unwillig Wörter wie «Herr» und «kingdom» formuliere, ergreift mich das gewaltige Stimmvolumen der vielen Menschen. Mir schiessen die Tränen in die Augen. Echt jetzt, ich?

Die Kirche ist fast voll. Die Menschen sitzen auf dem Boden und auf Meditationsbänkchen, viele haben die Schuhe ausgezogen. Die Brüder sitzen in Reihen auf einem Streifen in der Mitte. Weit vorn lasse ich mich nieder. Die Person neben mir nickt mir freundlich zu. Im lila Kleid und Strumpfhosen steckt ein Männerkörper. Zurücklächelnd stelle ich meine Turnschuhe neben die riesigen nietenbeschlagenen Plateaustiefel der Transfrau. 

Jetzt leuchtet auf den Säulen eine Nummer auf. Während ich im Büchlein mit den 173 Taizé-Liedern danach suche, erschallt bereits lauter, zweistimmiger Gesang. Die kurzen, eingängigen Strophen kann ich bald ohne Heft mitsingen, wir wiederholen sie minutenlang. Obwohl ich unwillig Wörter wie «Herr» und «kingdom» formuliere, ergreift mich das gewaltige Stimmvolumen der vielen Menschen, mir schiessen Tränen in die Augen. Echt jetzt, ich? 

Jede Woche Karfreitag und Ostern

Die Taizé-Andachten laufen stets gleich ab: Zuerst werden Lieder gesungen, dann lesen die Frères eine Bibelstelle in verschiedenen Sprachen. Es folgen Gesang, Fürbitten, zehn Minuten Stille, wieder Gesang. Wie jeden Donnerstag spricht Prior Matthew am Ende zehn Minuten zu einem aktuellen Thema. Er gedenkt der Leidenden in Kriegen, lädt ein, freundlich zu sein und Wärme zu verbreiten. Dann kündigt er die Karfreitagsandacht am nächsten Abend an. In Taizé wird jede Woche Ostern gefeiert, denn alle sollen mit einer Hoffnung heimkehren können. 

Nach einer Stunde erheben sich die Brüder, ein Teil verlässt die Kirche, der andere setzt sich für Zweiergespräche mit Gästen auf Stühlen bereit. Ich laufe zwischen vielen singenden Menschen hinaus. Der Platz, die Gebäude, die Bäume – alles ist in milchiges Vollmondlicht getaucht. 

Zeit, über das Leben nachzudenken

Am nächsten Tag lerne ich Marta kennen. Die 27-Jährige aus dem polnischen Krakau schichtet frisch gewaschene Laken in einer Baracke. Vor vier Monaten hängte sie ihren Job in einem Orchester an den Nagel, um ein Jahr lang freiwillig in Taizé zu arbeiten. Zwischen den Regalen erzählt sie: «Ich kam zum ersten Mal nach meiner unglücklichen Jugendzeit hierhin, auf der Suche nach Hoffnung und einem Weg mit Gott.» Durchaus skeptisch sei sie mit einer Freundesgruppe hergereist, dann jedoch: «Ich traf Menschen, die sich mit viel Empathie umeinander kümmerten und zuhörten, ohne zu urteilen. Das hatte ich noch nie so erlebt.» Zudem schreibe ihr niemand vor, wie man zu glauben habe. 

Seither kommt Marta jedes Jahr, nun erstmals zum Arbeiten. Sie sagt: «Das einfache Leben, der regelmässige Tagesablauf, mein Dienst für die Gemeinschaft und die guten Gespräche geben mir Sinn und Halt.» 

Als ich das erste Mal mit 23 in Taizé war, spürte ich, dass ich in jeder Situation meines Lebens an diesen Ort kommen kann.
Niek, 27, Freiwilliger

Niek, der am Empfang zum Wohntrakt der Brüder arbeitet, ist zum sechsten Mal hier. Auch er ist 27 und arbeitet einige Monate, vielleicht länger, in Taizé, um in Ruhe zu überlegen, wie sein Leben weitergehen soll. Der Holländer sagt: «Als ich das erste Mal mit 23 in Taizé war, spürte ich, dass ich in jeder Situation meines Lebens an diesen Ort kommen kann.» Die Gemeinschaft vermittle ihm Kraft und die Hoffnung auf das Gute im Menschen. «Das realisierte ich stark, als wir am 7. Oktober alle der Ereignisse in Israel und Gaza gedachten. Die Kriege liessen mich bis dahin ohnmächtig fühlen, aber in Taizé entwickle ich Optimismus.» 

Schock mit starker Wirkung

In der Nachfolge Jesu zuhören, ohne zu werten, mit dem Gegenüber Fragen teilen und ihn spüren lassen, dass Gott in jedem Gutes sät: Die Art, wie die Taizé-Brüder mit Gästen reden, habe nach den Missbrauchsgeschichten einen noch viel höheren Stellenwert bekommen, erzählt mir Bruder Matthew während des Interviews im Wohnhaus der Frères. Der Anglikaner ist seit letztem Dezember Prior. «Wir wissen jetzt viel besser, wie man asymmetrische Beziehungen vermeidet.» 

Regelmässig besuchen die Frères Trainings zum Verhindern von spirituellem und sexuellem Missbrauch sowie zum Umgang mit Nähe und Distanz. Entsprechende Workshops gibt es auch für alle Freiwilligen und Besucher. Frère Matthew ist überzeugt: «Die Missbräuche waren ein Schock. Sie zerstörten unser kostbarstes Gut, das Vertrauen. Aber die Ereignisse haben die Art, wie wir Menschen begleiten, revolutioniert.» 

Und sie erzeugten eine neue Herausforderung: Seit offen über Missbrauch gesprochen wird, erzählen laut dem Prior immer wieder Jugendliche von Verletzungen, die ihnen andernorts angetan wurden. 

Die Missbräuche waren ein Schock. Sie zerstörten unser kostbarstes Gut, das Vertrauen. Aber die Ereignisse haben die Art, wie wir Menschen begleiten, revolutioniert.
Frère Matthew, Prior von Taizé

Vor dem Abendessen geselle ich mich im Gästehaus zu einigen Leuten, die zusammen Tee trinken. Darunter ist Nicole, eine deutsche Ärztin, die ehrenamtlich zwei Wochen lang die Krankenstation mitbetreut. Thomas, ein Diakon aus Österreich, der in Taizé sechs Wochen Auszeit verbringt, sagt zu ihr: «Und, bereit für den grossen Abend?» Als ich Nicole fragend anschaue, erklärt sie: «Nach dem Karfreitagsgebet, wenn die Jugendlichen am Kreuz gebetet haben, gehen die Emotionen hoch.» Zahlreiche kämen dann mit Bauchschmerzen, «dem Teenagersymptom für Gefühlsstürme», in die Station. Ihr Mittel dagegen? «Ich gebe ihnen eine Tasse Tee und höre zu.» 

Beunruhigende neue Sorgen

Erwartungsvoll sitze ich an diesem Abend in der Kirche. Viele Lieder singe inzwischen auch ich auswendig. Gegen Ende der Andacht legen zwei Freiwillige ein grosses Kreuz zwischen die Brüder. Diese scharen sich darum und beten mit vornübergebeugten Oberkörpern. Dann geben sie den Platz frei. Während Stunden legen unzählige Menschen ihren Kopf auf das Kreuz und verharren minutenlang. Alle anderen Anwesenden singen unentwegt. 

Beim Anblick der Jugendlichen geht mir durch den Kopf, was mir sowohl Matthew als auch Sebastien, die seit Jahrzehnten in Taizé leben, erzählten: Die Fragen der Teenager hätten sich in all den Jahren nicht verändert, doch in letzter Zeit nehmen die Brüder etwas Neues, Beunruhigendes wahr. «Viele sind ohne Hoffnung und voller Ängste», hatte Matthew gesagt. «Der Klimawandel, die Kriege und der hohe gesellschaftliche Leistungsdruck lasten schwer auf ihnen.» 

ben dem Anwesen der Gemeinschaft spaziere, höre ich aus einer Kapelle leisen Gesang. Vorsichtig öffne ich die Tür. In einer Ecke sitzen etwa fünf 16-Jährige und singen ein Taizé-Lied. Sie nicken kichernd, als ich frage, ob ich zuhören dürfe, und singen weiter. Eine Junge trifft nicht alle Töne, und trotzdem klingt es wunderschön. Berührt lausche ich den fragilen Stimmen. Die Kraft, die in Taizé wirkt, spüre ich deutlicher denn je.