Vom 25. November bis 10. Dezember läuft die landesweite Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen». Als Stiftungsrätin des Frauenhauses Aargau-Solothurn haben Sie mit Frauen zu tun, die Schutz vor Gewalt suchen. Warum braucht es diese Aktion?
Sandra-Anne Göbelbecker: Die Schweiz steht punkto Schutzmassnahmen für Frauen gegen Gewalt nicht gut da. 2022 hat der Europarat sie für ihre mangelhaften Bemühungen getadelt. Laut der Polizeistatistik 2023 wurden 20 Frauen und Mädchen im Rahmen häuslicher Gewalt getötet, gegen 42 gab es einen Tötungsversuch, 839 wurden vergewaltigt. 2024 wurden bereits 15 Frauen getötet. Es braucht mehr Prävention, mehr qualifizierte Schutzplätze, mehr Wissen bei Behörden und Gerichten.
Wie erklären Sie das zögerliche Tempo?
Macht über Frauen auszuüben, ist Teil unserer Kultur. Während Angriffe von Menschen mit ausländischen Wurzeln auf Einheimische sofort zahlreiche Politikerinnen und Politiker auf den Plan rufen, lösen Morde an Frauen durch Männer oft nur in feministischen Kreisen Empörung aus. Gewalt im häuslichen Umfeld gilt als normal, als eine Privatsache. Vergewaltigung in der Ehe ist in der Schweiz erst seit 22 Jahren eine Straftat. Das Patriarchat ist tief in uns allen verankert. Das sieht man unter anderem daran, dass entsprechende Fachstellen und Projekte ständig um Gelder kämpfen müssen.
Auch das Frauenhaus Aargau-Solothurn?
Ja. Das Frauenhaus ist eines der wenigen der Schweiz, das keine Beiträge für die Bereithaltungskosten erhält. Beide Kantone finanzieren die Klientinnen nur 44 Tage über das Opferhilfegesetz. Viele bleiben aber länger, auch weil der Wohnungsmarkt eng ist. Die meisten landen in der Sozialhilfe, vor allem Mütter mit Kindern im Vorschulalter. Die gewaltausübenden Männer müssen im Aargau anders als etwa in Zürich weder die Wohnung verlassen noch die betroffenen Frauen finanziell unterstützen. Zudem sprechen die Gerichte den Frauen zu wenig schnell die Wohnung zu.