«Gewalt im häuslichen Umfeld gilt als normal»

Gesellschaft

Seit 2020 suchten im Frauenhaus Aargau-Solothurn 254 Frauen Schutz vor Gewalt. Laut der Stiftungsrätin und Synodalen Sandra-Anne Göbelbecker muss viel mehr unternommen werden.

Vom 25. November bis 10. Dezember läuft die landesweite Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen». Als Stiftungsrätin des Frauenhauses Aargau-Solothurn haben Sie mit Frauen zu tun, die Schutz vor Gewalt suchen. Warum braucht es diese Aktion? 

Sandra-Anne Göbelbecker: Die Schweiz steht punkto Schutzmassnahmen für Frauen gegen Gewalt nicht gut da. 2022 hat der Europarat sie für ihre mangelhaften Bemühungen getadelt. Laut der Polizeistatistik 2023 wurden 20 Frauen und Mädchen im Rahmen häuslicher Gewalt getötet, gegen 42 gab es einen Tötungsversuch, 839 wurden vergewaltigt. 2024 wurden bereits 15 Frauen getötet. Es braucht mehr Prävention, mehr qualifizierte Schutzplätze, mehr Wissen bei Behörden und Gerichten. 

Wie erklären Sie das zögerliche Tempo? 

Macht über Frauen auszuüben, ist Teil unserer Kultur. Während Angriffe von Menschen mit ausländischen Wurzeln auf Einheimische sofort zahlreiche Politikerinnen und Politiker auf den Plan rufen, lösen Morde an Frauen durch Männer oft nur in feministischen Kreisen Empörung aus. Gewalt im häuslichen Umfeld gilt als normal, als eine Privatsache. Vergewaltigung in der Ehe ist in der Schweiz erst seit 22 Jahren eine Straftat. Das Patriarchat ist tief in uns allen verankert. Das sieht man unter anderem daran, dass entsprechende Fachstellen und Projekte ständig um Gelder kämpfen müssen. 

Auch das Frauenhaus Aargau-Solothurn?

Ja. Das Frauenhaus ist eines der wenigen der Schweiz, das keine Beiträge für die Bereithaltungskosten erhält. Beide Kantone finanzieren die Klientinnen nur 44 Tage über das Opferhilfegesetz. Viele bleiben aber länger, auch weil der Wohnungsmarkt eng ist. Die meisten landen in der Sozialhilfe, vor allem Mütter mit Kindern im Vorschulalter. Die gewaltausübenden Männer müssen im Aargau anders als etwa in Zürich weder die Wohnung verlassen noch die betroffenen Frauen finanziell unterstützen. Zudem sprechen die Gerichte den Frauen zu wenig schnell die Wohnung zu.

Das Frauenhaus Aargau-Solothurn

Das Frauenhaus AG-SO ist in den beiden Kantonen das einzige Schutzhaus für Frauen mit und ohne Kinder, die von physischer, psychischer und sexueller Gewalt in der Partnerschaft oder durch Familienangehörige betroffen sind. Auch Frauen ab 18 Jahren, die von Zwangsheirat betroffen sind, finden Schutz und Begleitung. Das Haus bietet Platz für zehn Frauen und acht Kinder. Seit 2020 wurden 254 Frauen und 289 Kinder aufgenommen, der grösste Teil der Kinder war weniger als 6 Jahre alt. Die Mitarbeiterinnen berieten allein im Jahr 2023 425 Anrufende, wovon 242 direkt von häuslicher Gewalt betroffen waren. Zu den Gründungsmitgliedern der Stiftung Frauenhaus AG-SO gehören unter anderem die reformierte und katholische Landeskirche sowie der katholische Frauenbund.

Das Schutzhaus besteht seit 1983. Gab es in all den Jahren nie eine gesicherte Finanzierung? 

Nein. Dadurch verbringen die Mitarbeiterinnen einen viel zu grossen Teil damit, Gesuche an Ämter zu stellen und Spendengelder zu generieren. Aber sie sollten sich auf die Kernaufgaben konzentrieren können. Die Arbeit im Frauenhaus ist höchst anspruchsvoll, es ist 24 Stunden erreichbar, der Fokus liegt auf Beratung. Die Begleitung der Frauen ist sehr individuell, da ihre Ausgangslagen alle sehr unterschiedlich sind. Viele von ihnen haben Kinder im Vorschulalter.

2021 verabschiedeten der Bund und die Kantone eine Roadmap mit konkreten Massnahmen, um häusliche Gewalt einzudämmen. Diese wurde inzwischen um sexuelle
Gewalt erweitert. Das Bewusstsein für das Thema scheint zu wachsen. 

Tatsächlich gab es Verbesserungen auf gesetzlicher Ebene. Viele Kantone, darunter der Aargau, führen ein Bedrohungsmanagement, sie versuchen Warnsignale zu erkennen und rechtzeitig zu deeskalieren. Auch haben inzwischen einige Regionen verordnete Programme für gewaltausübende Personen lanciert. Aber das reicht nicht. Im privaten Umfeld sind Frauen und Mädchen nach wie vor am stärksten gefährdet. Und auch im öffentlichen Raum müssen sie noch immer die Umgebung scannen, abends im Zug, im Lift oder auf dem Nachhauseweg. Schlicht, weil sie eine Frau sind. Das darf nicht sein. 

Im privaten Umfeld sind Frauen und Mädchen am stärksten gefährdet. Auch im öffentlichen Raum müssen sie noch immer die Umgebung scannen.
Sandra-Anne Göbelbecker

Im Stiftungsrat vertritt die Pfarrerin Anna Schütz offiziell die Reformierte Kirche Aargau. Sie selbst sind im Parlament der Reformierten Kirche Aargau. Wo sehen Sie die Kirche in der Pflicht? 

Ich finde es essenziell, dass die Kirche sich in einem so wichtigen Thema engagiert. Mitglieder der Kirche sind auch Teil der Gesellschaft, des Staates und auch der Demokratie. Darum muss die Kirche wichtige gesellschaftliche Themen aufnehmen und ohne Scheu hinschauen. 

Immerhin unterstützten die Landeskirche das Frauenhaus 2023 mit 10 000 Franken. 

Davon 5000 Franken aus der reformierten Kirche. Das ist nicht viel, dennoch brauchen wir dieses Geld. Mindestens so wichtig fände ich zudem die ideelle Unterstützung. Indem die Kirche beispielsweise bei der Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» Präsenz zeigt, so wie das die Reformierte Kirche Bern-Jura-Solothurn macht. Unter anderem ruft sie ihre Kirchgemeinden auf, ihre Türme während der Kampagnentage orange zu beleuchten. Im Aargau geschieht das nicht. Viele Menschen verlassen die Kirche aber genau deshalb: weil sie nicht dezidiert für eine friedfertige Gesellschaft eintritt. 

Im Gottesdienst könnte man über Grenzen reden oder über Beziehungen. Auch die Altersarbeit eignet sich sehr gut für Sensibilisierung.

Andere treten aus, weil sie finden, die Kirche solle sich nicht in die Politik einmischen. 

Die Leute ärgern sich, wenn die Kirche nicht jene Position vertritt, die ihren eigenen entspricht. Aber beim Thema Gewalt geht es nicht um Parteipolitik, sondern um Menschenrechte. Und da soll die Kirche hinstehen und sagen, was nicht gut ist. Sie muss nicht immer eine Lösung haben, aber sie kann sich solidarisieren und die Menschen stärken. Und sie kann motivieren, dass man hinschaut, etwa wenn sich ein Paar am Bahnhof streitet oder eine Frau im Zug blöd angemacht wird. Sie soll helfen, Gewalt aus dem privaten Bereich herauszuholen. 

Wo sehen Sie den Spielraum dazu? 

Im Gottesdienst könnte man über Grenzen reden oder über Beziehungen. Auch die Altersarbeit eignet sich sehr gut für Sensibilisierung. Die Gefahr, Opfer von Gewalt zu werden, steigt im Alter wieder an. Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen bietet sich an, um Rollen zu hinterfragen oder über den Umgang mit dem eigenen Körper zu reden. Die Kirche hat viele Instrumente, Menschen und Räume. In Letzteren könnte wichtige Arbeit stattfinden, auch in Zusammenarbeit mit anderen Organisationen. 

Internationale Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen»

Die Aktion «16 Tage gegen Gewalt an Frauen und Mädchen» ist eine internationale Kampagne zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Sie findet jedes Jahr vom 25. November, dem Internationalen Tag zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, bis zum 10. Dezember, dem Tag der Menschenrechte, statt. Auch hierzulande finden Dutzende Veranstaltungen statt, unter anderem eine nationale Demonstration in Bern. Im Aargau gibt es eine Ausstellung, Theater, Filmvorführung, Strassenaktionen und eine Podiumsdiskussion.

Alle Informationen zu den Veranstaltungen: www.16tage.ch