Kann reformiert wirklich so anders sein?

Kirche im Ausland

Wie ein reformierter Gottesdienst abzulaufen hat, war «reformiert.»-Redaktorin Isabelle Berger klar. Bis sie in den Ferien eine neue Erfahrung machte. Reformiert geht auch anders.

Dass das Abendmahlsbrot anders aussah und schmeckte, als ich es gewohnt bin, war das Eindrücklichste, was ich bei meinem Besuch eines reformierten Gottesdienstes in Lettlands Hauptstadt Riga erlebte. Es war aber nicht der einzige Unterschied. «Kann reformiert so anders sein, als ich es kenne?», fragte ich mich danach. 

Schon vor dem Gottesdienst warnten mich meine Freunde, die mich eingeladen hatten, die Feier werde nicht pünktlich starten. So war es. Irgendwann hiess es: «Sind wir bereit?» «Ja.» «Dann fangen wir an.» Keine Glocken und Orgel. Es begann mit Worten: eine Begrüssung, Mitteilungen, ein Gebet für die anwesenden Kinder. Dann einige Lieder, begleitet von einer Band. Die Lieder – in Lettisch – waren mir melodisch unbekannt. Es gab kein Gesangbuch, die Texte wurden projiziert.

Predigt einmal anders 

Dann folgte die rund vierzigminütige Predigt. Der Pfarrer forderte die Anwesenden auf, die Bibelstelle, über welche er sprach, selbst zu lesen. Die Leute griffen zu Bibeln, die in den Kirchenbänken bereitlagen. Manche zückten auch Papier und Stift, um sich Notizen zu machen. 

An den genauen Inhalt der Predigt, die für mich und meinen Mann via Kopfhörer live übersetzt wurde, erinnere ich mich nicht. Geblieben ist mir, dass sie für mein Empfinden – ich stamme aus dem theologisch liberalen Bern – ein eher konservatives, exklusives Gepräge hatte. 

Nach dem Sprechen eines Glaubensbekenntnisses folgte schliesslich das Abendmahl. Dabei holten sich alle beim Pfarrer und einigen Helfenden Brot und Wein oder Traubensaft und gingen in die Bänke zurück. Im Stehen nahmen alle gleichzeitig beides ein und sprachen das Vaterunser. Danach lasen alle gemeinsam einen Abschnitt aus dem Heidelberger Katechismus, einem Lehrbuch des reformierten Glaubens aus dem 16. Jahrhundert. 

Nach dem Gottesdienst fanden sich die Teilnehmenden – vor allem jüngere Leute, oft mit Kindern – im Foyer der Kirche zu Kaffee und Kuchen ein. Es herrschte eine familiäre Atmosphäre, die Leute kannten sich. Unter einigen bestanden auch enge Freundschaften, wie ich durch meine Freunde erfuhr.

Reformiert kann offenbar wirklich sehr anders sein. Wieder zu Hause ging ich dem nach. «Schon wenn Sie nach Freiburg in einen französischen reformierten Gottesdienst gehen, ist es anders», sagte mir Susanne Schneeberger. Sie ist zuständig ist für den Bereich «Weltweite Ökumene» bei den Reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn. 

Schön, dass wir trotz Unterschieden zusammengehören.
Isabelle Berger Redaktorin «reformiert.»

Das habe viel mit der grundsätzlichen reformierten Haltung zu tun: «Wir haben kein weltweit für alle gültiges Bekenntnis.» Und mit der liberalen Haltung der Schweizer Reformierten täten sich viele Kirchen schwer. Noch immer würden in vielen reformierten Kirchen beispielsweise keine Frauen ordiniert. «Die Reformierten versuchen, Einheit in versöhnter Verschiedenheit zu leben – eine echte Herausforderung», sagt Schneeberger. 

Fokus auf das Wort 

Klärend ist auch das Videogespräch mit Ungars Gulbis, Pfarrer der Rigaer Gemeinde. «Für uns steht das Wort Gottes im Zentrum», sagt er und meint es wörtlich: Ästhetische Äusserlichkeiten sind ihm unwichtig. Es gehe im Gottesdienst darum, dass Gott die Menschen zusammenrufe, damit sie sein Wort hörten und gemeinsam das Abendmahl einnähmen, als sinnlich erfahrbares Zeichen der Gnade Gottes. Das Abendmahl gibt es wöchentlich. 

Für Gulbis ist die Gemeinschaft zentral. «Die Kirche ist kein steinernes Gebäude, sondern ein von Gott aus lebenden Steinen gebauter Tempel.» Dazu passt, dass die Gemeinde kein eigenes Gebäude hat, sondern in einer methodistischen Kirche eingemietet ist. 

Ich stimme Gulbis in vielem zu, aber: Die – vor allem liturgische – Tradition in der Schweiz ist anders. Plötzlich erinnern mich unsere Gottesdienste eher an katholische – ästhetischer Ablauf, Musik, Gewänder und besonderes Abendmahlsbrot – als an denjenigen in Riga. Dennoch: Diese Erfahrung bereichert mich mehr, als dass sie mich befremdet. Es ist schön zu wissen, dass wir trotz allen Unterschieden zusammengehören.