Missbrauch 01. Juli 2024, von Felix Reich

Der Bund soll übernehmen

Missbrauch

Die Synode der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz will Missbräuche aufarbeiten und die Prävention verstärken. Eine Dunkelfeldstudie unter Federführung der Kirche lehnt sie ab.

Rita Famos spricht von einer verpassten Chance. Die Pfarrerin und Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) hatte sich für eine Dunkelfeldstudie zum sexuellen Missbrauch eingesetzt. Mit 32 zu 24 Stimmen scheiterte der Antrag jedoch am Widerstand von 13 Mitgliedskirchen. Sie beauftragten den Rat nun, sich «beim Bund für die Durchführung einer Missbrauchsstudie auf nationaler Ebene zum Thema sexueller Missbrauch und Grenzverletzungen in der gesamten Gesellschaft einzusetzen».

Die Mitgliedkirchen verloren

Die Exekutive der EKS hatte gehofft, auch Fälle aufzunehmen, die nicht aktenkundig sind. Allerdings wären nicht nur Vorkommnisse erfasst worden, die im kirchlichen Umfeld stattfanden. Gekostet hätte die Studie unter Federführung von Anastas Odermatt von der Universität Luzern 1,6 Millionen Franken. 

Die Mitgliedskirchen hatten von einer historischen Studie abgeraten, weil die Datenlage lückenhaft sei. Auf dem Weg zur Dunkelfeldstudie habe die EKS die Mitgliedskirchen «dann irgendwo verloren», sagt Famos. «Als Auftraggeberin hätten wir auf Faktoren fokussieren können, die in der reformierten Kirche Missbrauch begünstigen.» 

Der blinde Fleck

In der Debatte vom 10. und 11. Juni in Neuenburg hatte die Zürcher Kirchenratspräsidentin Esther Straub verlangt, den Fokus auf Täter statt auf Strukturen zu richten. «Das ist der blinde Fleck: Es sind fast immer Männer.» Dass jede Struktur missbraucht werden könne, sei die zentrale Erkenntnis der Studie, die im Januar die Evangelische Kirche in Deutschland präsentiert hatte.

Christoph Zingg von der Bündner Kirche rief dazu auf, die Perspektive der Betroffenen einzunehmen: «Sie wollen gehört werden.» Gespräche mit Betroffenen hätten seine Delegation dazu bewogen, die Anträge des Rats zu unterstützen.

Hilfswerke rücken zusammen

Mit einem Handlungsfeld «Missionsorganisationen und Hilfswerk» will die EKS die Finanzierung von Mission 21, dem welschen Missionswerk DM und dem Hilfswerk der Evangelischen Kirche Schweiz (Heks) nachhaltig sichern und die Koordination unter den Organisationen verbessern. Heks-Stiftungsratspräsident Walter Schmid begrüsste den Entscheid. Zuletzt hatte insbesondere Mission 21 mit finanziellen Engpässen zu kämpfen. 

EKS-Präsidentin Rita Famos versprach, dass sich die reformierte Kirche zusammen mit der katholischen Bischofskonferenz gegen Kürzun­gen bei der Entwicklungszusammenarbeit wehren werde. Beim Bund ist das Budget wegen der Wiederaufbauhilfe für die Ukraine und die höheren Rüstungsausgaben doppelt unter Druck. 

Die Synode beauftragte den Rat, eine Arbeitsgruppe mit Fachpersonen und Betroffenen einzusetzen. Sie soll ein Massnahmenpaket schnüren, zu dem auch eine kircheninterne Studie zu sexuellem Missbrauch gehören kann. «Denn die Täter missbrauchen auch theologische Konzepte», sagte Straub. 

Theologische Arbeit nötig

Christina Aus der Au erklärt, Missbrauch sei ein gesamtgesellschaftliches Problem, weshalb es eine gesamtgesellschaftliche Studie unter Federführung des Bundes brauche. «Die Kirche soll sich dafür einsetzen und sich an den Kosten beteiligen», sagt die Thurgauer Kirchenratspräsidentin, die wie Straub zur siegreichen Opposition gehörte.

Auch Aus der Au fordert dazu auf, in der Kirche nun die theologische Arbeit aufzunehmen. Es gelte jetzt, sich der Frage zu stellen, wann «ein christliches Zeugnis kolonialistisch, patriarchal, übergriffig wird». Es gehe nicht allein um sexuellen, sondern ebenso um spirituellen Missbrauch. Und stets handle es  sich  um Machtstrukturen, die zu reflektieren und aufzubrechen seien.

Das gleiche Ziel

Die EKS wird nun bald auf nationaler Ebene eine externe Kontaktstelle für Menschen einrichten, die im kirchlichen Umfeld von Grenzverletzungen betroffen waren. Zudem soll die Präventionsarbeit zum Schutz der persönlichen Integrität verstärkt werden. Hier stünden die Kantonalkirchen in der Pflicht, sagt Aus der Au. Die EKS soll die Bemühungen «fördern und unterstützen», wie es im Antrag heisst.

Trotz unterschiedlicher Meinungen sind sich die Befragten in der Beurteilung der Debatte einig. «Sie war sachlich und fair», sagt Famos. Aus der Au plädiert dafür, sich jetzt nicht in Sieger und Verlierer auseinanderdividieren zu lassen. «Ich hoffe, die Betroffenen gewinnen.»

Kirche in der Pflicht

Dass der Entscheid der Synode, im Gegensatz zur katholischen Kirche vorerst keine Studie in Auftrag zu geben, Negativschlagzeilen mit sich bringt, müsse die Kirche aushalten, sagt Aus der Au. Nach der Präsentation der Studien in Deutschland und der katholischen Kirche in der Schweiz seien auch Leute ausgetreten. «Wir haben keine Angst um unser Image, wir sind wütend über die Missbräuche und Übergriffe.»

Famos betont, dass es nie um einen Wettbewerb der Studien gegangen sei. Denn die Betroffenen verlangten, dass ihr Leid anerkannt werde. «Ihnen gegenüber stehen wir unter Rechtfertigungsdruck», sagt die EKS-Präsidentin.