Die Veröffentlichung einer Pilotstudie über Missbrauch hat die Glaubwürdigkeit der katholischen Kirche in der Schweiz erschüttert. Historikerinnen der Universität Zürich haben 1002 Fälle von sexuellem Missbrauch in den letzten 70 Jahren dokumentiert. Begangen haben die Taten vor allem Priester. Das Resultat ihrer Recherchen bezeichnen die Forscherinnen als «Spitze des Eisbergs».
Nötig ist jetzt kritische Solidarität
Eine Studie zum sexuellen Missbrauch stürzt die katholische Kirche in eine Krise, die an den Reformierten nicht spurlos vorbeigeht. Abgrenzung ist trotzdem die falsche Antwort.
Endlich eine Meldestelle
Das Kirchenrecht wurde selektiv angewendet. Statt jeden Fall nach Rom zu melden und Strafanzeige einzureichen, versandeten Verfahren oder fehlbare Priester wurden gar dem Zugriff der Justiz entzogen, indem sie ins Ausland versetzt wurden.
Die Bischöfe scheinen ihre Lektion gelernt zu haben. Sie kündigten die längst überfällige Meldestelle für Opfer an und wollen keine Akten mehr vernichten. Vom Vatikan verlangen sie unabhängige Kirchengerichte. Bisher war ein Bischof Fürst und Richter in Personalunion.
In der Hierarchie gefangen
Trotz der Beteuerungen, einen Kulturwandel herbeiführen zu wollen, bleiben die Bistümer in der Hierarchie der Weltkirche gefangen. So betont Bischof Joseph Bonnemain, wie wichtig die Unabhängigkeit der Studie sei, nimmt aber den Auftrag aus Rom folgsam entgegen, als Sonderermittler die Vertuschungsvorwürfe gegen die Kollegen in der Bischofskonferenz zu untersuchen. Eine toxische Mischung aus Macht und Gehorsam lähmt die Institution.
Die katholische Kirche scheint unfähig zur tiefgreifenden Reform. In der Monarchie bräuchte es dazu den Machtverzicht von oben oder eine Revolution von unten. Beides ist nicht in Sicht. Den Bischöfen fehlt der Wille, sich über das Lehramt hinwegzusetzen, die Reformkräfte dürfen protestieren und in den Pfarreien Spielräume ausreizen, doch die Kräfteverhältnisse verschieben können sie nicht.
Die Wucht der Kirchenkritik
Die Austrittswelle, die nun die katholische Kirche absehbar erfasst, dürfte auch an der reformierten Kirche nicht spurlos vorbeigehen, obwohl sie demokratisch organisiert ist und endlich vermehrt Frauen in ihre Spitzenämter wählt. Institutionell verfasste Religion erscheint in der Öffentlichkeit als etwas, das unfrei macht, Macht zementiert und schreckliche Verbrechen zulässt.
Naheliegend wäre, dass die reformierte Kirche auf Distanz geht. Doch die Aussicht auf Erfolg ist gering. Zu stark ist die Wucht der Kirchenkritik. Ohnehin sind die beiden Landeskirchen eng verbunden. Viele Angebote betreiben sie zusammen. Vom gemeinsamen Weg abzuweichen, wäre töricht. Und die Solidarität mit den Opfern darf ohnehin keine konfessionellen Grenzen kennen.
Geschwister dürfen streiten
Das bedeutet nicht, dass die Reformierten schweigen sollen. Wer die Rolle als Schwesterkirche ernst nimmt, scheut den Widerspruch nicht. Geschwister dürfen streiten und müssen Kritik ertragen.
Jede Stimme, die auf die Kultur des Vertuschens und strukturelle Missstände hinweise, sei wichtig, sagte die katholische Theologin und Journalistin Veronika Jehle gegenüber «reformiert.». «Wir sind darauf angewiesen, dass der Druck auf die Verantwortungsträger hoch bleibt.» Trügen Reformierte «in kritischer Solidarität» dazu bei, sei das wertvoll.
Macht braucht Wachsamkeit
Es ist an der reformierten Kirche, die kritische Solidarität mit Leben zu füllen. Dazu gehört zuerst, für die Überzeugung zu kämpfen, dass eine Kirche, die sich zur Gleichstellung von Frauen und Männern sowie zur Gewaltenteilung bekennt, nichts an theologischer Glaubwürdigkeit einbüsst. Im Gegenteil: Eine Kirche, die dem Evangelium verpflichtet ist, kann niemals wie ein Imperium organisiert sein und die Macht allein den Männern überlassen.
Zugleich sind die eigenen Strukturen stets zu hinterfragen. Macht braucht Wachsamkeit. Wird Macht ausgeübt, sind Reflexion und Kontrolle zwingend. Abhängigkeitsverhältnisse aufzudecken, Grenzverletzungen und Missbräuche zu verhindern und, wenn das nicht gelingt, konsequent zu verfolgen, bleibt eine Daueraufgabe.
Ermutigung statt Distanz
Die Ökumene ist jetzt wichtiger denn je. Seelsorgerinnen, Ordensleute und Mandatsträger der katholischen Körperschaft, die demokratisch aufgebaut ist, setzen sich seit Jahren für Reformen in ihrer Kirche ein. Sie allein zu lassen, wäre fatal. Sie brauchen Solidarität und Ermutigung. Denn wenn die Reformkräfte verstummen, wird die klerikale Macht gestärkt. Daran kann die reformierte Kirche kein Interesse haben.