«Den Bischöfen fehlt nicht der Mut, ihnen fehlt der Wille»
Eine Pilotstudie zeigt, dass in der katholischen Kirche im Umgang mit Missbräuchen eine Kultur des Vertuschens herrschte. Theologin Veronika Jehle sieht dafür strukturelle Gründe.
Die Pilotstudie der Universität Zürich weist 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs innerhalb der katholischen Kirche in der Schweiz seit 1950 nach. Zudem zeigt sie, dass Fälle systematisch vertuscht wurden. Überrascht Sie der Befund?
Leider nicht. Ich bin eher erstaunt, dass nicht noch mehr Verantwortungsträger benannt werden, die in Missbrauchsfälle und deren Vertuschung verwickelt waren. Wenn ich über konkrete Fälle lese, bin ich aber schon überrascht. Und diese Erschütterung ist wichtig, sie bewahrt vor der Abstumpfung.
In anderen Ländern wurden ähnliche Studien bereits vor 20 Jahren verfasst. Warum hat es in der Schweiz so lange gedauert?
Einerseits ist es wohl eine Mentalitätsfrage. In einem Land wie der Schweiz kommt man leicht auf den Gedanken, es sei hier besser als andernorts. Ich fürchte, man nahm das auch in Bezug auf die katholische Kirche hier an, und nun zeigt sich etwas anderes. Dann ist die lange Wartezeit aber vor allem auf die Konstellation in der Schweizer Bischofskonferenz zurückzuführen. Der frühere Churer Bischof Vitus Huonder hat eine Untersuchung abgelehnt. Es musste das Ende seiner Amtszeit abgewartet werden, damit eine gesamtschweizerische Studie möglich wurde. Mit Joseph Bonnemain trat jemand die Nachfolge an, der sich schon länger für die Aufklärung von Missbräuchen eingesetzt hatte.
Fälle wurden vertuscht und Täter geschützt
Erstmals wurde einem unabhängigen Forschungsteam ermöglicht, in kirchlichen Archiven Akten über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche einzusehen. Die Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich belegen 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs, die katholische Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige seit 1950 in der Schweiz begangen haben. 510 Beschuldigte und 921 Betroffene wurden identifiziert. Belegt sind problematische Grenzüberschreitungen bis zu schwersten, systematischen Missbräuchen, die über Jahre hinweg andauerten.
Bei den dokumentierten Fällen handelt es sich laut den Studienautorinnen «zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs». Zahlreiche Archive konnten noch nicht ausgewertet werden. Die Vernichtung von Akten kann für zwei Diözesen belegt werden. Zudem legt die Dunkelfeldforschung nahe, dass viele Vergehen gar nie gemeldet wurden. Über 50 Prozent der Fälle wurden dem sozialen Raum der Pastoral und damit dem unmittelbaren Umfeld der Pfarrei zugeordnet. Besonders anfällig waren dabei Seelsorge, Ministrantendienst und Religionsunterricht.
Obwohl sexueller Missbrauch von Minderjährigen im Kirchenrecht längst ein schwerwiegender Straftatbestand ist, wurde das interne Strafrecht kaum angewandt. Zahlreiche Fälle wurden verschwiegen, vertuscht und beschuldigte oder überführte Kleriker systematisch versetzt, teilweise ins Ausland, um eine staatliche Strafverfolgung zu vermeiden.
Wie beurteilen Sie die Glaubwürdigkeit von Joseph Bonnemain im Kampf gegen Missbrauch?
Im Rahmen der vorherrschenden Kirchenstrukturen handelt er sehr glaubwürdig. Er hat im Bistum Chur einen Verhaltenskodex durchgesetzt und bereits für 2024 schweizweit Massnahmen als Reaktion auf die Ergebnisse der Pilotstudie angekündigt. Zudem hat auch die Bischofskonferenz bereits einen Vertrag für die Folgestudie unterzeichnet.
Welche Massnahmen sind nun am dringendsten?
Ganz entscheidend ist die unabhängige Meldestelle für Opfer von Missbrauch in der katholischen Kirche, deren Eröffnung Bischof Bonnemain für nächstes Jahr versprochen hat. An der Einlösung dieses Versprechens hängt durchaus seine Glaubwürdigkeit. Die Professionalisierung der Personalführung und die psychologischen Tests für kirchliche Mitarbeitende sind eigentlich Selbstverständlichkeiten, aber wichtig.
Diese Massnahmen setzen allein auf individueller Ebene an, obwohl die Studie nachweist, dass es systemische Faktoren gibt, die den Missbrauch begünstigen.
Das stimmt, ich rechne auch nicht damit, dass die Bischöfe die systemischen Faktoren angehen werden. Immerhin haben sich die Bischöfe in einer Selbstdeklaration verpflichtet, keine Akten mehr zu vernichten. Eigentlich schreibt das Kirchenrecht vor, dass Akten, in denen sogenannte Sittlichkeitsdelikte dokumentiert sind, nach zehn Jahren vernichtet werden müssen. Das kann als Akt des Ungehorsams verstanden werden. Hier waren die Bischöfe offenbar bereit, das Kirchenrecht zu dehnen.
Ganz offensichtlich hat der Bischof auch eingesehen, wie wichtig eine unabhängige Untersuchung ist. Dennoch nahm er das Mandat aus Rom an und soll nun als Sonderermittler die Vorwürfe gegen Mitglieder seiner eigenen Bischofskonferenz untersuchen. Den Bischöfen wird Vertuschung von Missbrauchsfällen vorgeworfen. Dieser Widerspruch kratzt doch an der Glaubwürdigkeit des Bischofs.
Dieses Glaubwürdigkeitsproblem verbindet ihn mit dem Papst. Franziskus hat sicher im Rahmen des Systems auch gegen Widerstand wichtige Entscheidungen getroffen. Er fordert eine lückenlose Aufklärung der Missbrauchsfälle. Gleichzeitig bleibt er dem System verhaftet, das an der innerkirchlichen Strafverfolgung festhält und die strukturellen Ursachen des Missbrauchs unangetastet lässt. Auch Bischof Bonnemain will die Kultur des Vertuschens bekämpfen, entscheidet sich aber für die Vorgaben aus Rom, wenn es draufankommt. Ich höre, er ist von der Notwendigkeit dieser Art von Gehorsam überzeugt. Ich fürchte, ein Mensch muss sich an solchen offensichtlichen Widersprüchen aufreiben.
Veronika Jehle
Die Theologin und Journalistin Veronika Jehle ist Co-Redaktionsleiterin beim forum, dem Pfarrblatt der Katholikinnen und Katholiken im Kanton Zürich. Sie arbeitete zuvor als Spitalseelsorgerin, gab ihre Missio jedoch zurück, weil sie die undurchsichtige Personalpolitik des Bischofs nicht mehr mittragen wollte. Sie setzt sich seit vielen Jahren für Reformen in der katholischen Kirche ein. Veronika Jehle ist Mitglied des Zürcher Forums der Religionen.
Welche strukturellen Veränderungen wären nötig?
Zuerst wäre das Ständesystem zu hinterfragen. Die katholische Kirche ist eine Monarchie, in der ausschliesslich Männer das Sagen haben, wenn es um Macht und Verantwortung geht. Sie kopiert in ihrer Verfasstheit das Römische Reich, was historisch interessant sein mag, aber gegenwärtig zu keinem guten Leben führt. Um die monarchischen Strukturen zu durchbrechen und ein System zu etablieren, in dem Gewaltenteilung herrscht und Frauen und Männer gleichberechtigt sind, bräuchte es den Machtverzicht des Papstes und der Bischöfe.
Fehlt Persönlichkeiten wie Bischof Bonnemain der Mut zum Ungehorsam?
Ich glaube nicht, dass ihnen der Mut fehlt. Den kirchlichen Verantwortungsträgern fehlt der Wille. Joseph Bonnemain zum Beispiel sieht Missbräuche weiterhin als Fehlentwicklungen in einem eigentlich guten System. Er möchte das System nicht verändern.
Es gibt ja in der katholischen Kirche viele mutige Frauen und Männer, die in ihrem Einsatz für Gerechtigkeit und Reformen viel riskieren. Aber sie sind meistens weit unten in der Hierarchie. Wird nicht Bischof, wer mutig ist?
Wer kritisch über seine Organisation denkt, bekommt selten eine Kaderstelle. Und die Bischöfe haben in einer Institution Karriere gemacht, in der mutiges Reden und kritisches Denken nicht als Tugenden gelten. Deshalb fehlt auch jenen Bischöfen, die sich ehrlich für die Opfer einsetzen, der Wille, an den strukturellen und lehramtlichen Ursachen etwas zu ändern. Das zu erkennen, hat etwas Erschreckendes. Aber auch etwas Klärendes: Gewisse Hoffnungen auf Veränderung haben kein Fundament, keine Begründung.
Das klingt nach einer «Ent-täuschung» im wahrsten Sinn. Was hält Sie dennoch in der katholischen Kirche?
Die Verbundenheit mit meiner Ursprungsfamilie, meine Identität ist katholisch geprägt. Die katholische Tradition bedeutet mir viel. Doch in erster Linie fühle ich mich als Christin. In meiner jetzigen Rolle als Journalistin eines katholischen Pfarrblatts kann ich gewisse Fragen stellen und im Kleinen dazu beitragen, dass Dinge offengelegt werden.
Befürchten Sie einen Reputationsschaden für die katholische Kirche? In Deutschland kam es zu einer Austrittswelle, als das Ausmass der Missbräuche offensichtlich wurde.
Mit einer Austrittswelle ist zu rechnen. Ich fürchte mich aber nicht davor, sondern stehe ihr ambivalent gegenüber. Einerseits sind die Austritte den Kirchenleitungen egal. Die Botschaft jener, die aus Protest austreten, kommt nicht an. Auch die finanziellen Konsequenzen sind zu gering, als dass sie schon jetzt das System nachhaltig erschüttert würden. Austreten macht also keinen Druck auf Verantwortliche. Andererseits verliert die hierarchisch strukturierte Kirche durch Austritte immerhin an Bedeutung. Der christliche Glaube hat Zukunft unabhängig von der römisch-katholischen Struktur: Diese Überzeugung tröstet mich. Was ich hingegen befürchte, ist ein individueller Vertrauensverlust. Die Menschen verlieren Vertrauen in Religion. Sie sehen das Klischee bestätigt, dass Religion Schreckliches passieren lässt, unfrei macht und zu nichts führt.
Von einem solchen Vertrauensverlust wäre dann auch die reformierte Kirche betroffen. Was kann die Schwesterkirche tun mit Blick auf die Probleme in der katholischen Kirche?
Wir brauchen die gesellschaftliche Wachsamkeit. Ich fürchte, die Aufmerksamkeit schwindet, sobald das mediale Scheinwerferlicht erlischt. Was wird dann aus den jetzt gemachten Versprechen? Woher soll der Druck kommen? Menschen, auch jene in den Schwesterkirchen, welche die Ursachen für die Missstände in ihrer Tiefe verstehen, können hinschauen, nachfragen und nicht vergessen. Jede Stimme, die auf die Kultur des Vertuschens und die strukturellen Missstände hinweist, ist wertvoll. Wir sind darauf angewiesen, dass der Druck auf die Verantwortungsträger hoch bleibt. Wenn reformierte Mitchristinnen und Mitchristen in kritischer Solidarität dazu beitragen können, ist das sehr wertvoll.