Warum ist Ihnen als Ethiker das Thema «sexualisierte Gewalt» so wichtig?
Mathias Wirth: Weil die Ethik hinschauen muss, wo Menschen besonderes verletzlich sind und dorthin, wo Leben gefährdet ist. Wenn ein Kind nach sexualisierter Gewalt durch Kirchenmitarbeitende traumatisiert ist und bis ans Ende seiner Tage unter den Folgen leidet, dürfen wir als Ethiker und natürlich auch als Gesellschaft nicht wegschauen oder das Geschehene banalisieren.
Vor einigen Jahren waren sie als junger Lehrer direkt mit Fällen sexualisierter Gewalt an Ihrer Schule konfrontiert.
Ja, ich war Vertrauenslehrer an einem katholischen Gymnasium. Schüler berichteten mir von zwei Patres und Lehrern, die Schülern rektal Medikamente verabreichten. Bis heute bin ich der Auffassung, dass es sich dabei und in diesem Setting um eine relativ klassische Form von sexualisierter Gewalt handelte. Man nutzt den Schutz der Zweideutigkeit und verschafft sich mit einem Medikament Zugang zu Körperöffnungen. Der Fall schien mir damals ebenso klar, und ich war überzeugt, dass die Lehrer umgehend aus dem Dienst entfernt würden, damit die Schüler geschützt wären. Doch das geschah nicht, zumindest nicht umgehend und umfassend, denn einer der Patres ist bis zum heutigen Tag dort. Ich war schockiert, dass der Schutz der Kinder nicht oberste Priorität hatte. Und ich musste erkennen, dass man sich selbst im Raum der Kirche, die ja auch eine Moralgemeinschaft ist, nicht einig war, wo die Grenzen des Akzeptablen liegen.