Anfang Jahr wurde die Studie der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) zu sexualisierter Gewalt und anderen Formen des Missbrauchs vorgestellt. Die Ergebnisse waren erschütternd. Welche Herausforderungen sich daraus ergeben, diskutierten die Frauen- und Genderkonferenz FGK und das Kompetenzzentrum Theologie und Ethik KTE der Evangelischen Kirche Schweiz EKS Ende Mai in Bern. Gemeinsam mit Fachpersonen, kirchenpolitisch Verantwortlichen und Interessierten wurde die EKD-Studie auf die Situation in der Schweiz hin analysiert.
Gefährliche Macht
Die Studie über sexuellen Missbrauch in der Evangelischen Kirche in Deutschland hat die Reformierten erschüttert. Fachleute erklärten, was die Resultate für die Schweiz bedeuten.
Falsche Sicherheit
«Als die EKD-Studie vorgestellt wurde, war mir sofort klar, dass diese Ergebnisse auch die Kirchen in der Schweiz noch einige Jahre beschäftigen werden», sagt Sabine Scheuter, Beauftragte für das Schutzkonzept Grenzverletzungen der reformierten Landeskirche Zürich, in ihrem Referat. Sie räumt ein, dass sie vor der Veröffentlichung auch auf die grossen Unterschiede zur katholischen Kirche hingewiesen habe. Dennoch seien die hohen Zahlen zu erwarten gewesen.
Sabine Scheuter blickt als Vertrauensperson der reformierten Landeskirche Zürich auf die letzten 20 Jahre im Amt zurück. In diesen 20 Jahren seien der Kirchenleitung nur wenige strafrechtlich relevante Fälle zur Kenntnis gelangt, vor allem nicht mit Minderjährigen. Aufgrund der Ergebnisse der EKD-Studie habe sie sich gefragt, ob es bei uns so viele Fälle gebe, von denen wir nichts wissen. Seit der Veröffentlichung der Missbrauchsstudien seien einige Betroffene neu an sie herangetreten, aber die Taten hätten alle vor diesen zwanzig Jahren stattgefunden.
Problematische Aktenlage
Um von diesen Fällen zu erfahren, wird der Synode der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) der Plan vorgelegt, eine so genannte Dunkelfeldstudie durchzuführen. Im Gegensatz zur Studie der EKD werden hier keine Akten eingesehen. Schon bei der EKD habe man grosse Mängel in Bezug auf die Dokumente festgestellt, erklärt Scheuter.
Auch in der Schweiz sei die Aktenlage problematisch. Aus verschiedenen Gründen. Personalakten von Sigristen, Musikern und anderen, würden in vielen Kirchen dezentral geführt und nach der Pensionierung oder dem Stellenwechsel nicht lange aufbewahrt. Dies auch aus Datenschutzgründen. Und auch die Akten der Pfarrer würden nicht ewig aufbewahrt, wenn sie aus dem kirchlichen Dienst ausscheiden. Am Ende müsste man die Protokolle der Kirchenpflegesitzungen von 140 Gemeinden durchsuchen – der Aufwand sei zu gross im Vergleich zu den Daten, die man erhalten könne.
Es gehe aber nicht nur um Zahlen, man erhoffe sich von der Studie auch qualitative Antworten, die mehr in die Tiefe gehen, sagt Sabine Scheuter: «Was sind die Umstände, was hat den Missbrauch erleichtert? Wie wurde er aufgearbeitet oder nicht?»
Schwieriger Begriff
Auf konkrete Fälle angesprochen, spricht Sabine Scheuter lieber von Grenzverletzungen und Situationen als von Missbrauch und Fällen. Herausfordernde Situationen und leichte Formen von Grenzverletzungen kommen im Alltag oft vor und sollen im Gespräch geklärt werden. Von Fällen spricht man erst, wenn es zu einem personalrechtlichen oder strafrechtlichen Verfahren kommt. Missbrauch sei ein schwieriger Begriff, der allerdings im Titel der EKD-Studie verwendet wird. Meist ist aber in der EKD-Studie von sexualisierter Gewalt die Rede, wobei auch dies ein weiter Begriff ist, der von verbalen Übergriffen bis zur Vergewaltigung reichen könne.
Dennoch macht Sabine Scheuter deutlich, dass es auch heute noch Fälle von sexualisierter Gewalt in der Kirche gebe. Um dies möglichst zu verhindern ist eine ganze Reihe von Massnahmen geplant: Umfassende Schutzkonzepte für alle reformierten Kirchen, die Professionalisierung der Meldestellen und Verfahren sowie ein besserer Miteinbezug von Betroffenen.
Deckmantel der Liebe
Die von der Universität Luzern durchgeführte Studie wird repräsentativ sein, die Fragebogen an mehrere zehntausend Adressen verschickt werden – nicht nur an Kirchenmitglieder. Aufgrund von Erfahrungswerten rechne man mit einem Rücklauf von rund 20'000. Nur ein kleiner Teil der Antworten stammt von Mitgliedern der reformierten oder katholischen Kirche. Und: Die Fragebögen fragen auch danach, wer zum Beispiel in der Familie oder im Sportverein Übergriffe erlebt hat. «Das gibt zusätzlich einen interessanten Vergleich», sagt Scheuter. Nicht zuletzt gehe es bei der Studie darum, Öffentlichkeit zu schaffen und den Betroffenen Gehör zu verschaffen.
Ein Satz aus der EKD-Studie ist Sabine Scheuter besonders in Erinnerung geblieben: «Die erste sexualisierte Gewalttat gegen Minderjährige erfolgte zumeist nach der Ordination.» Das weise auf einen zentralen Punkt hin, dass geistliche Macht zu Machtmissbrauch führen könne. Pfarrer würden auch heute noch oft überhöht. So bestehe die Gefahr, dass die geistliche Macht für sexualisierte Gewalt missbraucht und unter dem Deckmantel von Liebe und Nächstenliebe kaschiert werde.
Räume schaffen
Nationalrätin Anna Rosenwasser sprach zum Abschluss über die Notwendigkeit eines kollektiven Wandels. Sie betonte, dass sexualisierte Gewalt ein gesamtgesellschaftliches und nicht nur ein kirchliches Thema sei. Rosenwasser berichtete von einer Umfrage im Raum Bern zum Thema ungewollte sexuelle Handlungen: Nur 51 Prozent der befragten Frauen, die von einem Übergriff berichteten, hätten danach mit jemandem aus ihrem Umfeld darüber gesprochen. Die Dunkelziffer sei damit nicht erfasst, da viele Frauen aus Scham den Übergriff auch bei einer Befragung nicht angeben würden.
Die Tabuisierung von Sexualität, zu der auch die Kirche beigetragen habe und immer noch beitrage, erschwere das Gespräch zusätzlich. «Wir müssen Räume schaffen, in denen in einer guten Atmosphäre über Sexualität gesprochen werden kann. Erst dann ist es den Betroffenen möglich, über das Erlebte zu sprechen», nahm Rosenwasser die Kirchen in die Pflicht. «Wir kämpfen nicht nur gegen etwas, wir kämpfen für etwas. Wir kämpfen nicht nur gegen sexuelle Gewalt, sondern dafür, dass Sex als etwas Schönes erlebt werden kann.»