Geht es um die Aufarbeitung sexueller Gewalt, bezeichnen Betroffene in der EKD-Studie den Föderalismus als «Säule des Missbrauchs». Mehr Föderalismus als in der Schweiz geht fast nicht.
Die föderale Struktur ermöglichte, dass einzelne Landeskirchen vorangingen beim Ausarbeiten von Schutzkonzepten und dem Aufbau von Meldestellen. Sie mussten nicht auf Rom warten wie die Katholiken und haben andere Landeskirchen mitgezogen. Föderalismus fördert Innovation. Aber er hat auch Schattenseiten. Es kann unübersichtlich werden. Deshalb gilt es, einheitliche Prozesse bei der Aufarbeitung von Übergriffen zu etablieren. Wie etwa mit Meldungen von Betroffenen umgegangen wird, sollte nicht von deren Wohnort abhängig sein.
Als das Ausmass des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche publik wurde, traten auch Reformierte aus der Kirche aus. Nun wird die EKD-Studie diskutiert, eine Schweizer Studie soll folgen. Haben Sie keine Angst vor den nächsten Austrittswellen?
Indem sich die reformierte Kirche auch den dunklen Kapiteln der Vergangenheit stellt und das Leid, das Betroffene erfahren mussten, anerkennt, stärkt sie ihre Glaubwürdigkeit. Menschen treten aus, wenn sie den Eindruck haben, dass etwas vertuscht wird. Glaubwürdigkeit hilft gegen Kirchenaustritte.
Aus Angst vor Austritten die Aufarbeitung auszubremsen, würde die Kritik der EKD-Studie nur bestätigen: Betroffene wurden allein gelassen, die Institution geschützt.
Genau. Bei der Aufarbeitung geht es immer um den Menschen, der Leid erfahren hat. Der beste Weg, um diesen Menschen gerecht zu werden, ist, ihnen zuzuhören. Gerade wenn das, was sie zu erzählen haben, unangenehm ist. In der Kirche muss es um den Schutz der Person gehen. Die Angst um die Institution darf das Handeln nicht bestimmen.
Belastbare Zahlen wird eine Studie in der Schweiz aber kaum liefern.
Natürlich möchten wir gemeinsam mit den Mitgliedskirchen eine möglichst gute Datenlage erarbeiten. Das primäre Ziel ist jedoch, die Betroffenen einzubeziehen und auf sie zu hören, damit wir Erkenntnisse darüber erhalten, wie wir Übergriffe möglichst verhindern und Fälle aufarbeiten können.
Wann ist denn ein Fall ein Fall?
Eine sehr gute Frage. Sicher braucht es unterschiedliche Kategorien je nach Schwere eines Falls. Ein Fall beginnt nicht erst da, wo es strafrechtlich relevant wird. Wichtig ist die Erkenntnis aus früheren Publikationen, dass gerade im kirchlichen Bereich Grenzverletzungen schleichend passieren. Es beginnt oft mit einer normalen Seelsorgesituation, in welcher der Täter die Grenzen langsam verschiebt.