«Wir haben noch nicht genau genug hingeschaut»

Aufarbeitung

Rita Famos, Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, will eine Studie über sexuelle Gewalt in der Kirche in Auftrag geben. Sie sagt, was sie sich davon erhofft.

Sie möchten, dass nach der katholischen Kirche in der Schweiz und der Evangelischen Kirche Deutschland (EKD) auch die Reformierten in der Schweiz Fälle von sexueller Gewalt aufarbeiten. Weshalb? 

Rita Famos: Nach Veröffentlichung der Pilotstudie über Missbrauch in der katholischen Kirche gab ich in einer Westschweizer Zeitung ein Interview. Ich vertrat die Haltung, die damals viele Reformierte einnahmen: dass ein problematisches Frauenbild, die strenge Hierarchie, das Zölibat und die interne Gerichtsbarkeit Ursachen für den Missbrauch und das Vertuschen seien, die wir in der reformierten Kirche längst beseitigt hätten. Darauf meldeten sich Betroffene bei mir.

Und überzeugten Sie in den Gesprächen vom Gegenteil?

Natürlich wusste ich, dass die reformierte Kirche keine heile Welt ist, und habe das auch öffentlich gesagt. Wie in Sportvereinen oder Schulen gab und gibt es Übergriffe. Doch ich musste mein Bild von der progressiven Kirche, die strukturelle Quellen des Missbrauchs trocken gelegt hat, revidieren.

Rita Famos (58)

Pfarrerin Rita Famos ist seit 2021 Präsidentin der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz (EKS) und seit 2023 Mitglied im Zentralausschuss des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK). Zuvor hat Famos in der reformierten Kirche des Kantons Zürich die Abteilung Spezialseelsorge geleitet. Bereits von 2011 bis 2014 war sie Mitglied der Exekutive des Kirchenbunds, der Vorgängerorganisation der EKS.

Die Studie der EKD spricht von «Täter schützenden Strukturen».

Wir haben noch nicht genau genug hingeschaut, welche Bedingungen, die spezifisch mit der reformierten Kirche zu tun haben, Missbräuche begünstigen und die Aufarbeitung verhindern. Eine Erkenntnis aus der Studie ist allerdings auch, dass sich die allermeist männlichen Täter in unterschiedlichen Systemen bewegen und deren Schwachstellen ausnützen können. So kann auch eine aufgeklärte Haltung gegenüber der Sexualität dazu führen, dass charismatische Persönlichkeiten in der Jugendarbeit die Grenzen verschieben und ihre Macht ausnutzen.

Was hilft dagegen? 

In der Prävention sind wir gut aufgestellt. Die Mitgliedskirchen und Ausbildungsstellen arbeiten daran. Alle Landeskirchen haben Meldestellen, Betroffene können Vertrauenspersonen kontaktieren. In der Pfarrausbildung und in Weiterbildungen für Mitarbeitende werden Fragen nach Nähe und Distanz oder Macht thematisiert.

Also ist alles gut?

Das kann es nie sein. Die Arbeit in der Kirche basiert auf Beziehungen: in der Seelsorge, der Diakonie, der Jugendarbeit. Da braucht es immer eine hohe Sensibilität, denn gerade diese Beziehungsarbeit ist unser Kapital. Im Pfarrberuf und auch in anderen Funktionen ist immer wieder eine kritische Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen Rolle nötig. Weiterbildungen und Coachings für Mitarbeitende und Behörden bleiben wichtig.

Es gibt auch falsche Anschuldigungen. Wie lässt sich das verhindern?

Das passiert zwar selten, aber wir müssen Grenzverletzungen und sexuelle Gewalt aus der Tabuzone holen. Es braucht eine neue Sprachfähigkeit. Das bedeutet etwa, dass eine Aufsichtsperson in den Behörden oder eine Pfarrkollegin Fragen stellen kann, ohne jemanden gleich eines Übergriffs zu bezichtigen. Dann kann sie etwa darauf hinweisen, dass die private und die berufliche Rolle besser unterschieden werden sollten oder eine Geste, die vielleicht gar nicht so gemeint war, anders aufgefasst werden kann.

Geht es um die Aufarbeitung sexueller Gewalt, bezeichnen Betroffene in der EKD-Studie den Föderalismus als «Säule des Missbrauchs». Mehr Föderalismus als in der Schweiz geht fast nicht.

Die föderale Struktur ermöglichte, dass einzelne Landeskirchen vorangingen beim Ausarbeiten von Schutzkonzepten und dem Aufbau von Meldestellen. Sie mussten nicht auf Rom warten wie die Katholiken und haben andere Landeskirchen mitgezogen. Föderalismus fördert Innovation. Aber er hat auch Schattenseiten. Es kann unübersichtlich werden. Deshalb gilt es, einheitliche Prozesse bei der Aufarbeitung von Übergriffen zu etablieren. Wie etwa mit Meldungen von Betroffenen umgegangen wird, sollte nicht von deren Wohnort abhängig sein.

Als das Ausmass des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche publik wurde, traten auch Reformierte aus der Kirche aus. Nun wird die EKD-Studie diskutiert, eine Schweizer Studie soll folgen. Haben Sie keine Angst vor den nächsten Austrittswellen?

Indem sich die reformierte Kirche auch den dunklen Kapiteln der Vergangenheit stellt und das Leid, das Betroffene erfahren mussten, anerkennt, stärkt sie ihre Glaubwürdigkeit. Menschen treten aus, wenn sie den Eindruck haben, dass etwas vertuscht wird. Glaubwürdigkeit hilft gegen Kirchenaustritte.

Aus Angst vor Austritten die Aufarbeitung auszubremsen, würde die Kritik der EKD-Studie nur bestätigen: Betroffene wurden allein gelassen, die Institution geschützt.

Genau. Bei der Aufarbeitung geht es immer um den Menschen, der Leid erfahren hat. Der beste Weg, um diesen Menschen gerecht zu werden, ist, ihnen zuzuhören. Gerade wenn das, was sie zu erzählen haben, unangenehm ist. In der Kirche muss es um den Schutz der Person gehen. Die Angst um die Institution darf das Handeln nicht bestimmen.

Belastbare Zahlen wird eine Studie in der Schweiz aber kaum liefern. 

Natürlich möchten wir gemeinsam mit den Mitgliedskirchen eine möglichst gute Datenlage erarbeiten. Das primäre Ziel ist jedoch, die Betroffenen einzubeziehen und auf sie zu hören, damit wir Erkenntnisse darüber erhalten, wie wir Übergriffe möglichst verhindern und Fälle aufarbeiten können.

Wann ist denn ein Fall ein Fall?

Eine sehr gute Frage. Sicher braucht es unterschiedliche Kategorien je nach Schwere eines Falls. Ein Fall beginnt nicht erst da, wo es strafrechtlich relevant wird. Wichtig ist die Erkenntnis aus früheren Publikationen, dass gerade im kirchlichen Bereich Grenzverletzungen schleichend passieren. Es beginnt oft mit einer normalen Seelsorgesituation, in welcher der Täter die Grenzen langsam verschiebt.

Die Spitze der Spitze des Eisbergs

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat Ende Januar ihre Studie über sexuelle Gewalt in Kirche und Diakonie publiziert. Ein interdisziplinäres Forschungsteam hatte unter Einbezug von Betroffenen strukturelle Faktoren identifiziert, die Übergriffe begünstigen und die Aufarbeitung behindern. Die Studie identifizierte 2225 Betroffene und 1259 mutmassliche Täter im Zeitraum von 1946 bis 2020. Die Forschenden sprachen von der «Spitze der Spitze des Eisbergs», eine Hochrechnung geht von 9355 Betroffenen und 3497 Beschul­digten aus. Die Betroffenen waren zum Zeitpunkt der Tat oft minderjährig, viele Beschuldigte waren Pfarrer. Hinzu kommen Fälle, die sich in Insti­tutionen der Diakonie ereignet haben. Die Diakonie, die heute in Deutschland über 600 000 Mitarbeitende beschäftigt, unterhält Heime für Ju­gendliche und Kindertagesstätten.

Sie werden auf staatliche Archive angewiesen sein. In vielen Kantonen waren Pfarrerinnen und Pfarrer lange Zeit Staatsangestellte. 

Richtig. Nun sind viele Gespräche und Abklärungen nötig.

Die EKD hat bereits vor Jahren Betroffenenverbände an einen Tisch geladen und Kommissionen gegründet. Wie weit ist die EKS schon?

Da sind wir im Rückstand. Wir wollen keine Studie über Betroffene, sondern eine Aufarbeitung mit den Betroffenen zusammen. Unser Vorteil ist, dass wir von den Erfahrungen der EKD profitieren können und deren Fehler, die sie korrigierten, nicht mehr machen müssen.

Fürchten Sie auch ein finanzielles Risiko, wenn es bald auch um Wiedergutmachung gehen sollte?

Es gibt eine finanzielle Komponente, aber Angst habe ich nicht. Wir müssen auch abklären, ob der Staat, der in vielen Landeskirchen als Arbeitgeber eine Aufsichtspflicht hatte, seinen Teil beitragen soll. In den Gesprächen mit Betroffenen erhielt ich bisher den Eindruck, dass finanzielle Forderungen nicht im Vordergrund stehen. Es geht um die Anerkennung und die daraus folgenden Massnahmen für die Prävention.

Und wann wird die EKS ihre Studie präsentieren können?

Wir werden die zwei kommenden Synoden nutzen, um den Prozess aufzugleisen. Ende Jahr sollte das Vorgehen geklärt sein und ein Fahrplan vorliegen.