Gesellschaft 07. Februar 2024, von Felix Reich

Föderalismus als Säule des Missbrauchs

Grenzverletzungen

Pfarrerin Sabine Scheuter ordnet die deutsche Studie über sexuelle Gewalt in der Kirche ein und benennt die Schwachstellen im reformierten System.

Viele Reformierte glaubten, Missbrauch sei in erster Linie ein Problem der Katholiken. Sie auch? 

Sabine Scheuter: Nein. Als Vertrauensperson, die nach Grenzverletzungen kontaktiert werden kann, weiss ich, dass die reformierte Kirche keine heile Welt ist. Aber auch ich dachte, dass Zölibat, Hierarchie und ein problematisches Frauenbild hauptverantwortlich für die Missbräuche in der katholischen Kirche waren. Dass auch ohne diese Faktoren sexuelle Gewalt so verbreitet war und Fälle vertuscht wurden, hat mich schon ernüchtert.

Betroffene sprechen von einem «inkonsistenten und verwirrenden Sexualitätsverständnis zwischen Tabuisierung und Entgrenzung» in der evangelischen Kirche. 

Ein Klima, in dem Sexualität vor allem mit Scham verbunden ist, kann Missbräuche ebenso begünstigen wie eine Atmosphäre, in der kaum Tabus gelten. Potenzielle Täter können sich in ganz unterschiedlichen Systemen bewegen und die jeweiligen Schwachstellen ausnutzen.

Sabine Scheuter

Sabine Scheuter

Die Pfarrerin Sabine Scheuter ist in der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich verantwortlich für Personalentwicklung und Diversity. Sie hat intensiv am Verhaltenskodex «Respektvoller Umgang und Schutz vor Grenzverletzungen» mitgearbeitet und ist Ansprechperson für Ratsuchende. Sabine Scheuter führt regelmässig Schulungen für Mitarbeitende und Behördenmitglieder durch.

Wo sehen Sie Schwachstellen?

Dass der Föderalismus als Säule des Missbrauchs bezeichnet wird, hat mich alarmiert. In der Schweiz ist die Kirche noch kleinteiliger aufgebaut als in Deutschland. Die Zuständigkeit für viele Personalfragen ist weit draussen in den Gemeinden, es ist schwierig, einheitliche, professionell begleitete Prozesse zu etablieren. Umso wichtiger sind interne und externe Vertrauenspersonen sowie Ansprechstellen zur Unterstützung der Behörden. 

Eine «Strategie der Konfliktvermeidung» erschwerte oft die Aufar­beitung. Ist Harmonie gefährlich? 

Das Bild der Kirchgemeinde als familienähnliche Gemeinschaft hat seine schönen Seiten. Aber es wird zur Gefahr, wenn die Konfliktfähigkeit fehlt, Betroffene gedrängt werden, zu vergeben, damit der Friede wiederhergestellt ist. Pfarrpersonen müssen ihr Handeln selbstkritisch reflektieren und sich ihrer Macht bewusst sein sowie zwischen der beruflichen und privaten Rolle gut unterscheiden.