Gesellschaft 07. Februar 2024, von Felix Reich

Betroffene fühlen sich im Stich gelassen

Studie

Ein Forschungsteam hat in Deutschland Fälle von sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche aufgearbeitet. Es kritisiert, dass Strukturen die Täter schützen.

Die Studie über sexuelle Gewalt in der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) blickt hinter die Zahlen. Das ist ihre Stärke. Sie bezog Betroffene ein und suchte mit den Mitteln der qualitativen Forschung nach den strukturellen Faktoren, die den Missbrauch in Kirche und Diakonie begünstigen.

Wer belastbare Statistiken erwartete, wurde enttäuscht. Dafür war die Quellenlage zu dürftig, zentrale Archive mit Personalakten fehlten. Inzwischen kritisieren Landeskirchen zu kurze Fristen für die Mitarbeit.

Der Schatten des Föderalismus

Im Interview mit «reformiert.» spricht die Pfarrerin Sabine Scheuter über die Schwachstellen im reformierten System. Dazu gehören für sie die föderalen Strukturen, welche die Etablierung einheitlicher Prozesse bei der Aufarbeitung von Fällen von Grenzverletzungen oder sexueller Gewalt erschweren. Darauf weist auch die EKD-Studie mit Nachdruck hin. Scheuter ist in der reformierten Landeskirche des Kantons Zürich verantwortlich für Personalentwicklung und Diversity.

Die EKD-Ratsvorsitzende Kirsten Fehrs zeigte sich angesichts der Forschungsergebnisse «erschüttert und aufgerüttelt». Fassungslos sei sie aber nicht. «Wer nun aus allen Wolken fällt, hat in der Vergangenheit die Augen vor der Realität verschlossen», sagte sie Ende Januar.

Spitze der Eisbergspitze

Die Studie hatte die EKD bei einem unabhängigen, interdisziplinären Forschungsteam in Auftrag gegeben. Sie war auf drei Jahre angelegt und kostete rund 3,5 Millionen Franken. Ausgewertet wurden 4282 Disziplinarakten, 780 Personalakten und 1318 weitere Unterlagen. Die Studie identifizierte 2225 Betroffene und 1259 mutmassliche Täter im Zeitraum von 1946 bis 2020. Das ist laut Studie aber nur die «Spitze der Spitze des Eisbergs». Eine Hochrechnung schätzt die Anzahl der Betroffenen auf 9355 und geht von 3497 Beschuldigten aus.

Studie für die Schweiz

Auch die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) strebt eine Studie zur Aufarbeitung von Fällen sexualisierter Gewalt an. Auch darin soll die Perspektive der Betroffenen im Zentrum stehen. Eine Herausforderung dürfte die Herstellung einer belast­baren Datenlage sein. EKS-Präsidentin Rita Famos zeigt sich zuversicht­lich, «zusammen mit den Mitgliedskirchen eine gute Lösung» zu finden.

Bei den Beschuldigten handelte es sich fast ausschliesslich um Männer. Verheiratet waren rund zwei Drittel von ihnen. Die Mehrheit der Betroffenen war zum Zeitpunkt der Übergriffe minderjährig, das Durchschnittsalter lag unter 14 Jahren. 65 Prozent der Personen, die sexuelle Gewalt erlitten hatten, waren männlich. In der Dia­konie, die in Deutschland inzwischen über 600 000 Mitarbeitende beschäftigt, kam es vor allem in Heimen und in der Kinderbetreuung zu Übergriffen.

Schutz der Institution

Im kirchlichen Kontext waren Pfarrhäuser wiederholt Tatorte und Pfarrer Täter. Die Forscher und Forscherinnen verweisen darauf, dass Seelsorgesituationen ein erhöhtes Risiko für sexuelle Gewalt bergen. Sie fordern «umfangreiche Module zu Sexualität, Macht und Geschlecht» in der Pfarrausbildung.

Als Hindernis bei der Aufarbeitung erwies sich die föderalistische Struktur der evangelischen Kirche. In Gemeinden und Landeskirchen fehlten einheitliche Regeln, wie Taten untersucht und kommuniziert werden. Oft war das Interesse, die Institution zu schützen, grösser als der Wille, Betroffenen zu helfen.

Haltung ändern

Die Autorinnen und Autoren der Studie kritisieren ausserdem einen Drang zur Harmonie in der evangelischen Kirche. Die notwendigen Interventionen bei sexualisierter Gewalt führten jedoch «zwangsläufig zu konflikthaften Entwicklungen, deren Zielperspektive nicht in einer gütlichen Einigung besteht». 

Die EKD-Vorsitzende Kirsten Fehrs versprach, nicht nur Leitfäden und Präventionskonzepte zu verteilen, sondern gemeinsam mit Betroffenen auf eine Veränderung der Kultur und der Haltung hinzuwirken. Es gehe nicht um Abarbeiten, «es geht um Aufarbeiten».