Recherche 24. September 2023, von Vera Rüttimann/Kirchenbote

«Die Macht müsste geteilt werden»

Missbrauch

Luc Humbel, Kirchenratspräsident der römisch-katholischen Landeskirche des Kantons Aargau, spricht über die Studie zu den sexuellen Missbräuchen in der katholischen Kirche.

Die Pilotstudie zu den sexuellen Missbräuchen in der katholischen Kirche hat Bestürzung ausgelöst. Haben Sie dieses Ausmass erwartet?

Luc Hummel: Es war leider zu erwarten, wenn man die Zahlen mit den Studien in unseren Nachbarländern reflektiert. Zu denken gibt weiter, dass es sich dabei gemäss den Autoren um die Spitze des Eisbergs handeln soll. 

Wie geht es Ihnen da als Katholik? 

Es geht mir als Menschen und auch als Katholik nicht gut. Ich arbeite in einer Kirche, welche sich viel zu lange auf die Seite des Systems und des Machterhalts und nicht zu den Opfern hingewandt hat. Das beschämt mich. 

Die Zürcher Regierungsrätin Jacqueline Fehr meinte: «Die kirchliche Organisationsstruktur erfüllt grundsätzliche rechtsstaatliche Prinzipien nicht.» Stimmt diese Aussage?

Dem ist nichts beizufügen. Ich teile diese Einschätzung. Einzig das duale System mit der staatskirchenrechtlichen Ausprägung kennt die Gewaltenteilung, die Gleichberechtigung und das Diskriminierungsverbot. 

Trotzdem hat man das Gefühl, die Katholische Kirche agiere in einem eigenen Rechtsraum. Anders kann man sich nicht erklären, dass die Täter so geschützt wurden. 

Das war viel zu lange so. Aktuell würde ich die Lage anders beurteilen. Wir kennen im Aargau seit mehreren Jahren eine Anzeigepflicht für Mitarbeitende, die von Missbrauch Kenntnis haben, und wir arbeiten mit den staatlichen Opferhilfestellen zusammen.

Luc Hummel

Der Rechtsanwalt Luc Hummel ist Kirchenratspräsident der katholischen Landeskirche im Kanton Aargau. Die öffentlich-rechtlich anerkannte Körperschaft ist demokratisch organisiert und zusammen mit dem Bistum Teil des dualen System im Kanton Aargau. Die Kirchensteuern fliessen an die Landeskirche.

Sind die Vergehen auch nach Kirchenrecht strafbar? Warum haben die Bischöfe nicht gehandelt, sondern die Aufklärung eher verzögert? Wäre das rechtlich nicht ihre Aufgabe gewesen.

Diese Vorwürfe stehen im Raum. Es liegt nicht an mir, ohne Kenntnis des Sachverhaltes darüber zu befinden. 

Was bedeutet dies für die betroffenen Opfer? Erhalten sie Gerechtigkeit?

Gerechtigkeit ist in diesem Kontext ein schwieriger Begriff. Die Opfer leiden ein Leben lang. Wir können Genugtuung leisten. Dafür gibt es eine Kommission auf Bundesebene. Die Landeskirchen äuffnen diesen Fonds zusammen mit den Bistümern und den Orden. 

Die Fakten zeigen, dass etwas in der katholischen Kirche nicht stimmt. Was müsste sich Ihrer Meinung nach ändern?

Macht müsste geteilt werden und den Menschenrechten müsste Nachachtung geschenkt werden. 

Die Spitze des Eisbergs

Erstmals wurde einem unabhängigen Forschungsteam ermöglicht, in kirchlichen Archiven Akten über sexuellen Missbrauch im Umfeld der katholischen Kirche einzusehen. Die Historikerinnen und Historiker der Universität Zürich belegen 1002 Fälle sexuellen Missbrauchs, die katholische Kleriker, kirchliche Angestellte und Ordensangehörige seit 1950 in der Schweiz begangen haben. 510 Beschuldigte und 921 Betroffene wurden identifiziert. Belegt sind problematische Grenzüberschreitungen bis zu schwersten, systematischen Missbräuchen, die über Jahre hinweg andauerten. Bei den dokumentierten Fällen handelt es sich laut den Studienautorinnen «zweifellos nur um die Spitze des Eisbergs». Zahlreiche Archive konnten noch nicht ausgewertet werden. Die Vernichtung von Akten kann für zwei Diözesen belegt werden. Zudem legt die Dunkelfeldforschung nahe, dass viele Vergehen gar nie gemeldet wurden.

Über 50 Prozent der Fälle wurden dem sozialen Raum der Pastoral und damit dem unmittelbaren Umfeld der Pfarrei zugeordnet. Besonders anfällig waren dabei Seelsorge, Ministrantendienst und Religionsunterricht. Obwohl sexueller Missbrauch von Minderjährigen im Kirchenrecht längst ein schwerwiegender Straftatbestand ist, wurde das interne Strafrecht kaum angewandt. Zahlreiche Fälle wurden verschwiegen, vertuscht und beschuldigte oder überführte Kleriker systematisch versetzt, teilweise ins Ausland, um eine staatliche Strafverfolgung zu vermeiden.

Zeigen diese Missbrauchsfälle nicht, dass das Pflichtzölibat und die katholische Sexualmoral eigentlich in die falsche Richtung führen und unmenschlich sind?

Beide Ausprägungen sind bevormundend und stehen für eine Deutungshoheit, welche der Kirche längst nicht mehr zusteht.   Auch wenn es bei den Reformierten Kirchen in der Schweiz sicher auch Fälle von sexuellem Missbrauch gibt, kann man davon ausgehen, dass es Einzelfälle sind.

Was macht da die Reformierte Kirche anders oder gar besser?

Das kann und will ich nicht beurteilen. Es wäre eine Chance gewesen, die Studie gemeinsam in Auftrag zu geben.  

Viele Katholiken überlegen sich jetzt gut, ob sie noch Mitglied in dieser katholischen Kirche sein wollen. Was sagen Sie denen?

Auch in diesem Entscheid soll die Kirche nicht bevormundend sein. Über 80 Prozent der Kirchensteuern werden in der Wohnsitzgemeinde ausgegeben. Für die Seelsorge und die diakonische Arbeit vor Ort. Wenn dieses Geld fehlt, trifft es Personen, die die belastenden Umstände nicht zu verantworten haben. Es bleibt immer ein höchstpersönlicher Entscheid, welcher zu respektieren ist.