Gesellschaft 03. Januar 2025, von Hans Herrmann

Ein neues Netzwerk, das alles verändern wird

Wissenschaft

Yuval Noah Harari gibt in seinem Buch «Nexus» eindrückliche Einblicke in die Welt der menschlichen Informationsnetzwerke. Das Wesen der Religion schildert er aber zu einseitig.

Mit Religion tut sich Yuval Noah Harari merklich schwer. Der atheistische Historiker, Gesellschaftsphilosoph und Buchautor erweist sich ihr gegenüber zwar als fair, indem er sich mit allzu dezidierten Spitzen zurückhält. Aber er lässt auch keinen Zweifel daran offen, wie er die Glaubenssysteme dieser Welt einordnet: als reine Erfindung der Menschen, als Mythen, als Fantasiegebilde.

Möglich, dass hier Biografisches hineinspielt: Wer wie er als Homosexueller in einer religiös geprägten und homophoben Kleinstadt in Israel aufgewachsen ist, kann berechtigte Vorbehalte gegenüber dem Religiösen entwickeln.

Religion als Netzwerk

Wie auch immer: Im neuesten Buch von Yuval Noah Harari «Nexus» geht es auch um Religion, vor allem aber um Informationsnetzwerke. Um Vorstellungen, Traditionen und Wissensbestände also, die Menschen in bestimmten Regionen, Ländern und Kulturkreisen miteinander teilen und die dazu führen, dass Gruppen, Nationen und Gesellschaften überhaupt funktionieren können. Und eines dieser Netzwerke – ein sehr altes und sehr etabliertes – ist das Netzwerk der Religionen.

Harari nennt zwei Grundtypen von Netzwerken: die intersubjektiven und die informationsbasierten. Die intersubjektiven sind menschgemachte Konstrukte, die von vielen Individuen subjektiv als stimmig anerkannt werden und deshalb eine Art Wahrheit darstellen, auch wenn sie sich einer naturwissenschaftlichen Nachprüfung entziehen. Eine politische Ideologie wie der Kommunismus oder der Faschismus kann ein solches intersubjektives Netzwerk sein – oder eben, so Harari, die Religion.

Religionen haben sich als sehr beständig und überaus wirkmächtig erwiesen. Nach Hararis Überzeugung sind sie nicht göttlich inspiriert, sondern von den Menschen entwickelt beziehungsweise erfunden und in die Welt gesetzt worden. Dies, um die Gemeinschaft vor der Gefahr der Orientierungslosigkeit zu bewahren und das Zusammenleben verlässlich regeln zu können. Die Idee dahinter sei, dass als moralisches und juristisches Koordinatensystem nichts absoluter und unverfügbarer sein könne als ein gottgegebenes Informationspaket.

Wahrheit mit Verfallsdatum

Diesen absolut gesetzten und scheinbar für die Ewigkeit gebauten Systemen wohne jedoch ein grosser Mangel inne, schreibt der Autor. Erstens könnten sie auf irrationale Art entgleisen, zum Beispiel in Form des Hexenwahns, wie er in Europa und den USA in der frühen Neuzeit wütete. Und zweitens veränderten sich Gesellschaften im Lauf der Zeit unweigerlich, was zur Folge habe, dass die alten Gottesgebote keine adäquaten Antworten mehr auf aktuelle Fragestellungen lieferten.

Anpassung im Sinn einer Selbstkorrektur sei jedoch, so Harari weiter, im religiösen Denken sehr schwer zu bewerkstelligen, weil sich Religionen ja auf gottgegebene Weisungen berufen würden. Als einziger Ausweg bleibe die Neuinterpretation der alten und angeblich absoluten Weisungen. Und zwar durch angeblich unfehlbare Autoritäten wie zum Beispiel der Papst oder der jüdische Talmud. Immerhin aber hätten Religionen – wie andere Mythen auch – eine einende, ordnende und gesellschaftsbildende Kraft, räumt Harari ein.

Korrektur als fortwährender Prozess

Auf der anderen Seite stehen die Informationsnetzwerke. Diese basieren, wie der Name sagt, auf einer Fülle von Informationen aller Art, die einer Gemeinschaft zur Verfügung stehen. Auch diese Netzwerke seien fehlerbehaftet, erklärt Harari. Die «naive» Vorstellung, dass falsche Informationen durch mehr und bessere Informationen ausgemerzt werden könnten, greife zu kurz. Es komme immer darauf an, in wessen Händen sich ein Informationsnetzwerk befinde. Stehe Information in demokratischer Manier allen zur Verfügung und sei sie einem laufenden Prozess der Korrektur unterworfen, dann sei sie ein gutes Werkzeug, um Gesellschaften voranzubringen.

Allerdings kann Information auch totalitären Systemen dienen. Harari schildert in seinem Buch eindrücklich, welch dichte Netze zur Informationsbeschaffung Diktatoren um ihre Untertanen spannen und spinnen, um sie so effizient als möglich zu überwachen und zu lenken. Sogar der schlimmste Diktator mit den unermüdlichsten Spionen ist allerdings nicht in der Lage, die Menschen lückenlos zu kontrollieren. Denn: Auch Spione müssen schlafen, und der zur Verfügung stehenden Überwachungstechnologie waren bisher Grenzen gesetzt.

Digitale Spitzel schlafen nie

Nun beginnt mit der Digitalisierung und dem Aufkommen der Künstlichen Intelligenz (KI) aber eine neue Art von Netzwerken wirksam zu werden, vor deren Gefahren Yuval Noah Harari eindringlich warnt. Ohne es richtig zu merken, begebe sich die Menschheit unter die totale Kontrolle einer maschinellen, unbewussten und daher völlig andersartigen Intelligenz, die keinen Schlaf kenne und rund um die Uhr im Einsatz stehe. Und die so brillant und schnell im Erkennen von Mustern sei, dass man leicht der Versuchung erliegen könne, die KI als neue Gottheit einer unfehlbaren Technologie zu verehren.

Das aber wäre laut Harari fatal. «Wenn die menschliche Vorstellungskraft einen kriegerischen und hasserfüllen Gott beschwor, stand es nach wie vor in unserer Macht, uns von ihm zu befreien und uns eine tolerantere Gottheit vorzustellen», schreibt er. «Algorithmen aber sind unabhängige Akteure, und sie nehmen uns schon heute einen Teil unserer Macht. Wenn sie eine Katastrophe verursachen, werden wir sie nicht unbedingt aufhalten können, indem wir unsere Vorstellungen von ihnen ändern.» Und es sei wahrscheinlich, dass Computer tatsächlich Katastrophen verursachen könnten – «denn sie sind fehlbar». Von einem Computernetzwerk verursachte Katastrophen könnten laut Harari «die frühneuzeitlichen europäischen Hexenverfolgungen oder Stalins Zwangskollektivierung weit in den Schatten stellen».

Um dieser Gefahr entgegenzuwirken, sei es unerlässlich, schon jetzt die Weichen richtig zu stellen, die digitale Welt unter demokratische Aufsicht zu stellen und so zu regulieren, dass sie durchschaubar, beherrschbar, sicher, fair und auf dem Weg der Nützlichkeit bleibe.

Die transzendente Dimension

Wer Hararis Buch liest und seine immer wieder durchscheinende Religionskritik nicht teilt, kann anmerken, dass Religion eben nicht einfach nur eine Erfindung ist, um Gesellschaften ein absolut gesetztes Ordnungsprinzip überzustülpen. Religion hat auch viel mit persönlichen Erfahrungen zu tun, mit Erlebnissen, denen die Qualität von individuellen, tiefgründigen und tiefgreifenden «Wahrheiten» innewohnt. Subjektiv und manchmal mystisch zwar, aber weder erfunden, erdacht noch konstruiert, um irgendeinen verwaltungstechnischen oder juristischen Zweck zu erfüllen. Religion beziehungsweise religiöses Erleben bedeutet – zumindest für Menschen, die religiöses «Musikgehör» haben – nicht allein Moral und Ethik, sondern Einbettung in eine transzendente Dimension.

Trotz Hararis Mangel an Einfühlungsvermögen in das Wesen der Religion ist sein Buch «Nexus» aber äusserst lesenswert, denn es öffnet in allgemeinverständlichen Gedankengängen und gut verständlicher Sprache ein Fenster in die schwer zu durchschauende und doch allgegenwärtige digitale Welt: in eine Welt, in der sich gerade einer der grössten Umbrüche der Menschheitsgeschichte vollzieht.

Yuval Noah Harari: Nexus, eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz. Penguin Verlag, 2024.