«Wenn man ein Perlhuhn wird»: Wie Fellini in Afrika

Kino

Ein Onkel ist plötzlich tot, und Geschichten kommen an den Tag. Bloss wollen das die trauernden Familien nicht wahrhaben – ein hart real und zugleich surreal aufrüttelnder Film.

Die italienische Regie-Ikone Federico Fellini kann dem Publikum von «On becoming a Guinea Fowl» (sinngemäss: Wie man ein Perlhuhn wird) ganz berechtigt in den Sinn kommen. Zwar hat äusserlich der zweite Spielfilm von der britisch-sambischen Filmemacherin Rungano Nyoni rein gar nichts mit dem tief italienischen Hintergrund Fellinis zu tun: Es geht um eine Beerdigung eines Mannes in Sambia, mit dem ganzen Aufeinanderprallen von traditionellen Bräuchen in einer afrikanischen Familie und Kultur, von modernen Gegebenheiten und Frauen, die nicht alles einfach hinnehmen, wie man es müsste.

Aber wie die Darstellung der Wirklichkeit immer wieder ins fast surreal Wirkende gleitet, ohne irgendwelche Spezialeffekte, das hat Nyoni mit ihrem Team wie mitunter Fellini meisterhaft geschafft. Ohne viel äussere Handlung, mit einer gewissen Bedächtigkeit im Erzählen, im Spiel, Bild und Schnitt, immer wieder mit Kamerafahrten, die an den Gefilmten dranbleiben und ihr Handeln und Werden verfolgen, schaffte sie ein tragikomisches Werk, in dem auch Suspense und Drama nicht fehlen.

Und immer wieder im Dunkeln

Der Film beginnt, wie er schliesslich die meiste Zeit über sein wird: im Dunkeln und im Zwielicht (weil nachts jeweils der Strom abgestellt wird), mit präzis gewählten Bildausschnitten, die vor allem anregen, sich das Bild und Geschehen über das Gezeigte hinaus vorzustellen. Shula, eine junge Frau, kommt von einem Fest, fährt in einem seltsamen Kostüm im Auto nachts übers Land und hält plötzlich an. Ein Mann liegt tot auf der Strasse, und dieser Mann ist Shulas Onkel Fred.

Damit sind auch gleich die zwei Hauptrollen des Films definiert: Die abgeklärt und rational wirkende Shula, die im Mittelpunkt des Geschehens und oft des Bildes steht – und der nie mit Gesicht (ausser auf einem alten Foto) gezeigte tote Onkel Fred. Hauptrolle, weil über sein Leben und Verhalten im Lauf der Geschichte immer mehr verstörende Details zum Vorschein kommen, durch Shulas Cousinen Nsansa und Bupe, schliesslich auch in einer denkwürdigen Szene im Hühnerstall mit ihrer Mutter durch Shula selbst.

In der Rahmengeschichte bemühen sich Mütter und Väter und viele Tanten und Onkel darum, dass der traditionelle Ablauf eingehalten wird. Man kommt zusammen im Haus der Familie des Verstorbenen. Die Frauen wohnen drinnen, kochen, waschen, reden, klagen. Die Männer wohnen draussen in Zelten, sitzen, warten und sagen, was sie gerne essen möchten.

Antönungen für den Film im Kopf

Mit Shula zusammen kommt das Publikum etwas herum: Im Studentenheim, wo ihre Cousine Bupe geholt wird; im Club, wo Shulas Vater feiert; im Zuhause der bis dahin nicht bekannten Frau von Onkel Fred. Und überall kommen im Erzählen von Betroffenen Andeutungen – nie mehr als das – von grausamen Übergriffen des Verstorbenen zum Vorschein. Aber überall heisst es auch immer wieder: «Er ist jetzt tot, also ist es okay.» «Es ist vorbei, es ist unwichtig.» «Denke und sprich nicht darüber.»

Ebenfalls immer wieder erscheinen Szenen aus der Kindheit von Shula. Eine in der Schule, wo es um Tiere geht und dabei schliesslich um das Perlhuhn, und eine, in der das Mädchen mit einer Bettflasche an den Bauch gedrückt vor dem Fernseher sitzt und einen Animationsfilm zum Perlhuhn schaut. 

Mehrfach ausgezeichnet

Der zweite Spielfilm der Regisseurin Rungano Nyoni knüpft an ihr Debüt «I Am Not a Witch» aus dem Jahr 2017 an und sorgte erneut für internationales Aufsehen: In Cannes erhielt sie den Preis für die beste Regie in der Sektion «Un Certain Regard», am Zurich Film Festival wurde sie mit dem Goldenen Auge für den besten Spielfilm ausgezeichnet. Auch an den British Independent Film Awards wurde sie als beste Regisseurin ausgezeichnet, am Chicago International Film Festival schliesslich erhielten die Schauspielenden den Preis für die beste Performance.

On Becoming a Guinea Fowl. Mit: Susan Chardy (Shula), Elizabeth Chisela (Nsansa), Esther Singini (Bupe), Blessings Bhamjee (Young Shula), Doris Naulapwa (Mother), Henry B.J. Phiri (Dad). Regie: Rungano Nyoni, Sambia 2024, Drehbuch: Rungano Nyoni, 98 Min.

Jetzt in diversen Schweizer Kinos.

Das Ganze kumuliert in der Schlussszene. Die aufgebrachten Familien von Onkel Fred und von seiner sehr jungen Witwe begegnen sich in der traditionellen Zusammenkunft, um Fragen zu klären, was passiert ist, wie er gestorben ist. Gemäss einem Interview mit der Regisseurin ist das in der Trauerzeremonie der Zeitpunkt, Zweifel anzusprechen und dann weiterzugehen. Dabei wird auch der Besitz des Verstorbenen in die Mitte gebracht und aufgeteilt.

Versöhnung unmöglich

Aufgelöst wird der Film aber nicht mit Frieden oder dem Begräbnis selbst oder gar einer Verurteilung – das würde erst als Nächstes folgen. Doch die Opfer des Verstorbenen setzen immer stärker störende Akzente im traditionellen Ablauf – und eignen sich subtil immer mehr das Verhalten von Perlhühnern an. Aus der Schulstunde und dem Animationsfilm weiss das Publikum, dass diese von anderen Savannentieren gerne als Begleitung geduldet werden. Denn sie warnen mit lauten Schreien vor Raubtieren.

Und auf einmal macht das völlig quer anmutende Kostüm von Shula ganz am Anfang ganz viel Sinn.

Offizieller Trailer von «On becoming a Guinea Fowl»