Gesellschaft 31. August 2024, von Annegret Ruoff

Musik in schwierigen Lebensphasen

Diakonie

Der Verein Musikalisches Fenster organisiert Konzerte für alte Menschen, Kranke und Sterbende. Was auf der Palliativstation des KSB begann, findet mittlerweile breite Resonanz.

Mit einem lauten Pling öffnet sich die Lifttür im vierten Stock des Alterszentrums Kehl in Baden. Zwei Herren in schwarzen Bundfaltenhosen und schwarzen Hemden bugsieren einen kleinen Wagen mit einem sperrigen Gegenstand in den Gang hinaus und rollen es in Richtung Aufenthaltsraum. Von dort blicken ihnen bereits 30 neugierige Augenpaare entgegen. Die Seniorinnen und Senioren sind – manche von ihnen im Rollstuhl – aus verschiedenen Stationen zusammengekommen, um dem halbstündigen Konzert mit dem verheissungsvollen Titel «Amoroso» zu lauschen. Auch einige Pflegende haben sich in der Küche versammelt und schenken Kaffee und Tee aus.

Während Stefan Müller und Bernhard Kühne das grosse, schwere «Paket» vom Wagen heben, beginnen die Bewohnerinnen und Bewohner miteinander zu plaudern. «Ich heisse Hans», stellt sich einer der Anwesenden seinem Tischnachbarn vor. Dieser rückt etwas näher und neigt etwas seinen Kopf, um besser verstehen zu können. Bald tauschen sich die zwei angeregt miteinander aus. 

Musik, Worte und Humor

Die zwei Musiker haben ihre Instrumente ausgepackt, sie sind bereit. «Liebe Menschen, herzlich willkommen», begrüsst Karin Klemm das Publikum. Die Seelsorgerin aus Baden ist die Präsidentin des kleinen Vereins Musikalisches Fenster, den sie 2018 mitbegründet hat. Nach einer kurzen Vorstellung der Musiker präsentieren diese mit ansteckender Begeisterung ihre Instrumente: ein italienisches Virginal, Flöten und eine Barockoboe. «Wir nehmen Sie mit auf eine deutsch-italienische Reise», sagt Stefan Müller, und schon spielen er und Kühne die ersten Töne. Geschmeidig lehnt sich der warme Klang der Oboe ans perlende Saitenspiel des Virginals. Das Publikum lauscht aufmerksam zu, hie und da wandert ein Lächeln über das Gesicht.

Die Stücke mäandrieren zwischen langen Seufzern und rasenden Wirbeln, sie transportieren den ganzen Reigen an Emotionen, der ein Menschenleben erfüllt. Zwischendurch streut Karin Klemm, inspiriert von der deutschen Schriftstellerin Susanne Niemeyer, kurze Texte. «Was hilft beim Altwerden? Musik und Mut. Aber welcher Mut? Grossmut, Langmut und auch Demut. Uns allen wünsch ich Übermut!» Bei Hans kommt das an, fröhlich posaunt er in den Raum hinaus: «Alles hat ein Ende, nur die Wurst hat zwei!» Den Humor aufgreifend, leiten Stefan Müller und Bernhard Kühne zum nächsten Stück über. 

Wir spielen für alle Menschen in schwierigen Situationen und beschenken sie mit einem ‹Erlebnis auf Ohrenhöhe›
Karin Klemm, Seelsorgerin

Biblischer Bezug

Professionelle Musik an Schwerkranke und Sterbende zu verschenken, das ist das Ziel des Vereins Musikalisches Fenster. Entstanden ist das Projekt 2015 auf der Palliativstation des Kantonsspitals Baden, seit 2018 ist es als Verein organisiert. Mittlerweile hat es sich an vielen Auftrittsorten, darunter Hospize und Pflegeheime, einen Namen gemacht. Durchschnittlich 14 Konzerte finden jährlich statt, zudem zwei Benefizanlässe, deren Kollekte jeweils vollständig in weitere Auftritte fliesst. Hinzu kommen Mitgliederbeiträge, Spenden und andere Zuwendungen. «Uns ist wichtig, dass wir unsere Konzerte kostenlos anbieten und den Musizierenden gleichzeitig faire Gagen bezahlen», betont Karin Klemm, die von Anfang an dabei ist. 

Der Leitgedanke des Vereins basiert auf der biblischen Geschichte, in der Jesus am Ende seines Lebens von einer Frau mit kostbarem Öl gesalbt wird. «An dieser Stelle wird ausgerufen: Wozu diese Verschwendung?», erklärt Karin Klemm. Die Grundhaltung des Schenkens ist der 60-Jährigen, die hauptberuflich als Seelsorgerin im Pastoralraum Aare-Rhein arbeitet, wichtig. Zur Illustration erzählt sie von einem Konzert des Vereins im Hospiz Aargau in Brugg. Dort sind jeweils nur wenige Menschen auf dem Gang anwesend, aber viele Türen zu den Patientenzimmern geöffnet. Am Ende des Konzerts war leises Klatschen aus einem der Zimmer zu hören. «Das war Applaus auf dem Sterbebett», sagt Klemm sichtlich berührt. «Und das geht einfach zu Herzen.» 

Konzert im Einzelzimmer

Klein und fein wie seine musikalischen Geschenke der verschiedenen Musiker ist auch der 20 Frauen und Männer zählende Verein geblieben. Die Seelsorgerin wünscht sich weitere Auftrittsorte – im grösseren Rahmen ebenso wie im Einzelsetting im Spital, im Heim oder zu Hause. «Wir spielen für alle Menschen in schwierigen Situationen», betont sie. «Und beschenken sie mit einem ‹Erlebnis auf Ohrenhöhe›». 

Im Alterszentrum Kehl setzen Stefan Müller und Bernhard Kühne zu den letzten Tönen an. Der begeisterte Applaus der Anwesenden demonstriert, dass das musikalische Geschenk in den Herzen angekommen ist.