Anderen zu helfen, hilft auch ihr selbst

Sozialprojekt

Nicole kocht für Menschen in Not, zu denen sie selbst gehört. Der Einsatz öffnet ihr Wege, zurück ins normale Leben zu finden.

Ein Topf Zwiebelsauce köchelt auf dem Herd. Nicole wirft einen kritischen Blick hinein. Darin schwimmen noch Gewürze, die rausmüssen, bevor die Sauce zu Bratwurst und Kartoffelstock serviert werden kann.

Die 40-Jährige kocht als Freiwillige das Sunntigs-Znacht der aufsuchenden Sozial- und Konfliktarbeit Pinto in Bern. Jeden Sonntagabend können 90 Armutsbetroffene gratis im Restaurant Dock8 im Neubauquartier Holliger essen.

Nicole ist es deutlich anzumerken, dass sie 20 Jahre in der Gastronomie gearbeitet hat, wenn man ihr in der Küche zuschaut. Sie hat alles im Griff und dabei auch Spass. Sie scherzt viel mit ihren Mitarbeitenden, lacht laut und herzlich. Sarkasmus sei ihr Markenzeichen, «wie die Schirmmütze auch», sagt sie beim Gespräch auf der Terrasse des kirchlich mitgetragenen Dock8.

Harmonie trotz Hürden

Das Menü für diesen Sonntag hat Nicole zusammengestellt. «Es gibt etwas Einfaches, weil Leute mit wenig Erfahrung mitkochen», erklärt sie. Sämtliche Mitglieder des Küchenteams arbeiten unentgeltlich.

Nicole teilt die Hauptverantwortung mit einem Kollegen. «Ich hatte noch nie so ein super Team, es läuft erstaunlich harmonisch.» Erstaunlich nicht nur, weil die Gruppe aus verschiedenen Nationalitäten besteht, sondern auch, weil hier alle mit Lebensproblemen zu kämpfen haben: Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit, Sucht, psychische Probleme und andere. Auch Nicole. Aus diesem Grund möchte sie ihren Nachnamen auch nicht in der Zeitung publik machen.

Ich kann so etwas von der Hilfe zurück geben, die ich bekommen habe.
Nicole, Köchin beim Sunntigs-Znacht

Aufgewachsen ist sie unter traumatisierenden, prekären Bedingungen. Doch sie hatte Glück und wurde von einem Bauernpaar aus dem Saanenland adoptiert. «Endlich entkam ich dieser Hölle», berichtet sie. Sie fand eine neue Familie. Besonders zu ihrem Adoptivvater, den sie iebevoll Papa nennt, baute sie eine enge Beziehung auf.

Doch 2021 holte sie das Unglück wieder ein. Ihre Ehe ging zu Bruch, sie wurde obdachlos. Zunächst hielt sie sich mit vier Jobs über Wasser. Ihre Gefühle und Gedanken verdrängte sie. Jedoch geriet sie auf der Strasse zunehmend ins Elend. «Irgendwann wurde es zu viel.» Sie stürzte in eine Depression.

Tiefpunkt nach Todesfall

Als wäre all dies nicht genug, starb 2023 auch noch ihr Adoptivvater. «Das warf mich endgültig aus der Bahn.» Sie seien zuvor im Streit auseinandergegangen. «Aber eigentlich war er mein Ein und Alles.» Mit Drogen und Alkohol betäubte sie den Schmerz. «Ich kann besonders schlecht mit Schmerzen umgehen», sagt Nicole.

Bald sei sie aber mit der Pinto in Kontakt gekommen. Nach langem Suchen fand sie wieder eine Wohnung, das Allerwichtigste für sie. Heute lebt sie von der Sozialhilfe und ist in der Abklärung für die IV. Vor drei Jahren fing sie als Freiwillige beim Sunntigs-Znacht an. «Die Arbeit hier stellt mich auf», sagt sie. Die Einsätze gäben ihr Struktur, und sie könne damit etwas zurückgeben von der Hilfe, die sie bekommen habe. Und: «Es ist wie eine Art Gruppentherapie», sagt sie. Eine grosse Hilfe auf dem Weg zurück in ein normales Leben – Nicoles Ziel.

Wieder auf einem Bauernhof zu leben, wäre meine Traum.
Nicole, Köchin beim Sunntigs-Znacht

Ende gut, alles gut? Nicht ganz. Der Kampf um ein Dach über dem Kopf geht weiter. Nicoles bisherige Wohnung wurde ihr kürzlich wegen Eigenbedarfs gekündigt. Ein neues Zuhause zu finden, ist für sie alles andere als einfach: Nicole hat auch noch Schulden und Haustiere. Immerhin gibt es einen Hoffnungsschimmer: «Ich konnte eine Wohnung auf einem Bauernhof besichtigen.» Es ist ihr Traum, wieder auf einem Bauernhof zu leben.

Zurück in der Küche. Nicole hat am Vortag bei Läden überschüssige Lebensmittel abgeholt. Sie kocht gerne kreativ. Der bunte Salat von heute freut sie. Etwas gegen Verschwendung tun zu können – auch das gibt ihr Sinn.