Der Spagat zwischen Alltag und Fürsorge

Psychologie

Die Belastung pflegender Angehöriger wird unterschätzt. Eine  Studie der Universität Zürich zeigt: Ohne Entlastung drohen langfristige Folgen, die schwer zu bewältigen sind.

Die Wohnung von Ursula Jarvis und Andres Müller ist hell und gemütlich. Und praktisch. Vor sieben Jahren erhielt Müller, 74, die Diagnose Parkinson. «Damit veränderte sich vieles», sagt Ursula Jarvis, gelernte Pflegefachfrau und Sozialdiakonin. «Früher lebten wir in einem alten Bauernhaus mit einem grossen Garten. Heute sind wir im dritten Stock mit Lift besser aufgehoben.» 

Der Alltag des Paares hat sich verlangsamt. Müller konnte dank einer Operation die eingebüssten feinmotorischen Fähigkeiten wieder deutlich verbessern. Er könne sogar wieder Knöpfe zumachen, bemerkt er stolz. Aktivitäten wie lange Hundespaziergänge hingegen, die früher selbstverständlich waren, gehören der Vergangenheit an. 

«Wir waren ein sehr aktives Paar. Jetzt ist meine Frau oft allein unterwegs», sagt er. Die Beziehung werde dadurch auf die Probe gestellt, wie Jarvis betont. Sie müsse neu ausgehandelt werden: «Ich habe von Anfang an gesagt, dass ich Partnerin bleiben will und nicht Pflegerin. Dafür gibt es die Spitex.» Diese Rollenaufteilung trage dazu bei, sich trotz der Krankheit auf Augenhöhe zu begegnen. Die beiden vereinbarten zudem, dass sie nur hilft, wenn er explizit danach fragt. 

Fehlende Anerkennung

Dennoch fordert die Krankheit ihren Tribut: «Man muss immer präsent sein und gleichzeitig versuchen, die eigenen Bedürfnisse nicht aus den Augen zu verlieren», beschreibt Jarvis die Situation. 

Ihre Erfahrungen spiegeln sich in einer aktuellen internationalen Studie der Universität Zürich wider. Sie zeigt auf: Pflegearbeit kann das Wohlbefinden auf lange Frist beeinträchtigen. «Insbesondere die für Pflege aufgebrachte Zeit ist entscheidend für die Abnahme der Lebenszufriedenheit und emotionalen Gesundheit», erklärt der Psychologe und Mitautor der Studie, Michael Krämer. Überraschend sei, dass Faktoren wie die Intensität der Pflege weniger ausschlaggebend sind als die investierte Zeit. 

Die Mehrheit der Pflegenden verbringt ein bis zwei Stunden täglich mit der Pflege – was bereits einen signifikanten Einfluss auf das Wohlbefinden hat. Darüber hinaus deutet die Studie darauf hin, dass Frauen stärker betroffen sind als Männer, weil sie oft mehr Zeit in Pflegetätigkeiten investieren. 

Hierzulande erbringen pflegende Angehörige gemäss Pro Infirmis jährlich Pflegeleistungen im Wert von 3,7 Milliarden Franken – oft ohne die gebührende gesellschaftliche Anerkennung, wie Krämer betont. Um dies zu ändern, gibt es bereits wichtige politische Massnahmen. Etwa die Anstellung von Angehörigen über Spitex oder Betreuungsgutschriften in der AHV. 

Arbeitnehmende haben seit 2021 zudem Anspruch auf einen bezahlten Kurzurlaub, um dringende Betreuungsaufgaben zu übernehmen. Der Kanton Zürich hat zum Jahresbeginn 2025 Anpassungen an der Zusatzleistungsverordnung vorgenomen mit dem Ziel, pflegende Angehörige finanziell zu entlasten. 

Die Kirche in der Pflicht

Gleichwohl braucht es laut Krämer weiter gehende Reformen. Ein Follow-up der Studie mit Daten aus der Schweiz sei in Planung. Tatsache sei: Die demografischen Veränderungen würden die Belastung für pflegende Angehörige weiter verstärken. «Es braucht strukturelle Lösungen, um die Abhängigkeit von informeller Pflege zu reduzieren.» 

Diese Erkenntnis lässt sich auch aus einer Studie der Fachhochschule Nordwestschweiz aus dem Jahr 2023 ableiten. Sie legt offen, dass in der Schweiz immer mehr Menschen gänzlich ohne familiäre Unterstützung auskommen müssen. Um dieser Entwicklung gerecht zu werden, sieht Ursula Jarvis, die in der Region Affoltern am Albis eine Selbsthilfegruppe für pflegende Angehörige leitet, auch die Kirche in der Pflicht. «Kirche muss da einspringen, wo Menschen durch das soziale Netz fallen», betont sie. Insbesondere im Umgang mit Demenz erkennt Ursula Jarvis Handlungsbedarf. 

Gemischte Lösungen

Derzeit setzt sich die 69-Jährige in ihrer Kirchgemeinde für regelmässige Schulungen von Freiwilligen ein, die Angehörige in der Pflege unterstützen. Jarvis hat hierzu selbst eine Weiterbildung an der Fachhochschule Bern absolviert. «Mit dem kirchlichen Netzwerk an Freiwilligen lässt sich vieles abdecken», ist sie überzeugt. Wichtig sei, dass Pflegebedürftige, Angehörige und Freiwillige Hand in Hand arbeiten.

Auch Studienautor Krämer plädiert dafür, auf gemischte Pflegelösungen zu setzen, bei denen familiäre und professionelle Ressourcen eingebunden werden. Andernfalls drohten Überlastung und gesundheitliche Folgen für Betroffene. 

Krämer schliesst nicht aus, dass Pflege sinnstiftend wirken kann. In früheren Studien hätten einige Angehörige von einer vertieften Bindung zu den Pflegebedürftigen erzählt. Jarvis sagt: «Es gibt Momente, die das Herz berühren. Die Augenblicke dürfen jedoch nicht von der alltäglichen Belastung überschattet werden.» 

Daten aus drei Ländern

Die Studie der Universität Zürich analysierte Daten von 28 663 pflegen-
den Angehörigen aus Panelstudien in den Niederlanden, Deutschland  und Australien, basierend auf insgesamt 291 884 Beobachtungen.  Dabei wurden Veränderungen im Wohlbefinden über die Zeit untersucht,  insbesondere in Bezug auf Lebenszufriedenheit, emotionales Befinden,  Einsamkeit und Ängste.